Hochgerüstete "Gottespartei"Israel droht schwerer Hisbollah-Angriff aus dem Norden

Israels gewaltigster Feind mit seinen mutmaßlich 150.000 Raketen lauert im Norden: Die Hisbollah im Libanon ist der Hamas militärisch haushoch überlegen. Erste Angriffe laufen schon, doch scheuen die Terrormiliz und Jerusalem den offenen Konflikt. Der Iran könnte das ändern - und Israels Angst vor einer zweiten Front wahr machen.
Noch vor wenigen Wochen bekriegten sich die Hisbollah und Israel in einem immer stärker eskalierenden Kampf der Worte. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant reiste Anfang August an die Grenze zum Libanon und drohte der libanesischen Terrorgruppe: "Wenn es hier zu einer Eskalation oder einem Konflikt kommt, werden wir den Libanon in die Steinzeit zurückversetzen." Der hochrangige Hisbollah-Kommandeur Hajj Jihad warnte wenige Tage später zurück, man werde die israelischen Militärposten in "Friedhöfe" verwandeln und konkretisierte: "Unsere Schlacht wird in Galiläa stattfinden und wenn der Feind mit seinen Panzern in den Libanon eindringt, wird er nicht mehr abziehen können."
Nun fliegen seit dem Angriff der Hamas auf Israel vom vergangenen Samstag keine Worte mehr, sondern Raketen und Artilleriegeschosse. Mit stetig erhöhter Intensität. Am Sonntag feuerte die Hisbollah mehrere Mörser- und Panzerabwehrraketen auf Einrichtungen der israelischen Streitkräfte in der Nähe der Schebaa-Farmen, ein von Israel besetzter und politisch umstrittener Streifen Land nahe der israelisch-libanesisch-syrischen Grenze. Die israelische Armee antwortete mit Gegenbeschuss und einem Luftangriff. Einen Tag später versuchten bewaffnete Kämpfer der Hisbollah über die Grenze zu gelangen; drei israelische Soldaten und drei Mitglieder der Miliz wurden getötet. Am Dienstagnachmittag wurden etwa 15 Raketen aus Gebieten im Südlibanon abgefeuert, Israel antwortete erneut mit Gegenbeschuss.
Kleinere Scharmützel im seit 1978 von der UN-Friedensmission UNIFIL bewachten Grenzgebiet gibt es seit dem Israel-Libanon Krieg 2006 in regelmäßigen Abständen. Stets befinden sich Jerusalem und die Schiitenmiliz an der Grenze zu einem offenen Krieg. Zur totalen Eskalation kam es jedoch seit 17 Jahren nicht mehr.
Sollte die Hisbollah aber mehr als nur ein paar Raketen aus Solidarität mit der Hamas abfeuern, könnte dies den aktuellen Konflikt dramatisch eskalieren. Dann droht Israel eine zweite, viel gefährlichere Front im Norden und mit der schiitischen Miliz ein gewaltigerer Feind als die Hamas. Ausgerechnet Israels Erzfeind Iran wird wohl darüber entscheiden, ob der aktuelle Krieg bald noch desaströsere Konsequenzen haben wird.
Hisbollah - ausgebildet und schwer bewaffnet
Die Hisbollah überragt alle militanten Gruppen im Nahen Osten, sowohl hinsichtlich ihrer militärischen Effizienz als auch ihrer politischen Stärke. Die Organisation wurde in den 1970er und 80er Jahren unter anderem vom iranisch-schiitischen Geistlichen Ali Akbar Mohtashamipur gegründet, der ein treuer Verbündeter von Ayatollah Ruhollah Khomeini war und 2021 an Covid starb. Khomeini, der die iranische Revolution anführte und 1979 die Islamischen Republik Iran gründete, soll Mohtashamipur mit dem besonderen Auftrag, eine schiitische Miliz zu gründen, nach Syrien geschickt haben, von wo der Hisbollah-Architekt später nach Libanon übersiedelte.
Die Hisbollah war vor allem eine Antwort auf die Einmärsche israelischer Truppen in den Libanon 1978 und 1982. Eine Widerstandsgruppe zunächst - so das eigene Narrativ zumindest und ein Grund, auf dem die große Popularität basiert -, doch viel mehr bald darauf. Ihre Ideologie verankerte die Hisbollah 1985 in einem Manifest, in dem sie schwor, die westlichen Mächte aus dem Libanon zu vertreiben, zur Zerstörung des israelischen Staates aufrief und dem Obersten Führer des Iran die Treue schwor. Ergo ist die bloße Existenz der Organisation nicht nur libanesischer Natur, sondern eng verbunden mit Israel, Syrien und dem Iran, ihrem Strippenzieher.
Im Vergleich zur Hamas ist die Hisbollah viel höher entwickelt und auch gefährlicher, weil der Iran seinen Stellvertreter von Anfang an mit den nötigen militärischen Mitteln und wichtigem Know-how ausstattet. Teheran schickte schon in den 1980ern Soldaten seiner Islamischen Revolutionsgarden (IRGC) in den Libanon, wo sie Hisbollah-Kämpfer ausbildeten. Mit Geld, Waffen und Humanressourcen baute der Iran aus der Hisbollah eine Miliz, die in der arabischen Welt ihresgleichen sucht. Selbst das libanesische Militär kann nicht mithalten.
Laut eigenen Angaben besitzt die Hisbollah über 100.000 ausgebildete Soldaten, Kampfdrohnen und gelenkte Präzisionsraketen. Überprüfbar sind solche Propaganda-Angaben nicht. Doch dass die Miliz Kampferfahrung besitzt, steht fest: Seit 2013 kämpfen in Syrien bis zu 5000 Soldaten an der Seite von Machthaber Baschar al-Assad. Einerseits, um den Einfluss des Iran in der Region zu vergrößern. Andererseits möglicherweise auch, um Spezialeinheiten zu testen, die die Grenze nach Israel überschreiten und in Städte eindringen könnten, um Massaker zu verüben und Gefangene zu nehmen.
150.000 Raketen, die auf Israel zielen?
Speziell die Elite-Truppe "Radwan", die auch in Syrien kämpft, gilt als berüchtigt für solche Aktionen. 2017 veröffentlichte die Hisbollah online ein Bild eines ihrer Kämpfer mit einem Schild, das warnte, dass die Kämpfe in Syrien lediglich eine Übung für die bevorstehende Invasion Israels seien. Laut der Hisbollah-Expertin Hanin Ghaddar vom Washington Institute for Near East Policy stellt sich die Radwan-Brigade dieser Tage an der Grenze zu Israel auf.
Aber, wie der Name schon besagt, die Hisbollah fungiert im Libanon ebenfalls als politische Kraft. Als soziale Wohltätigkeitsorganisation mit zivilen Einrichtungen, eigenen Krankenhäusern und Schulen. Und daher rührt ebenfalls ihre Stärke. Die Organisation ist der De-facto-Herrscher des schwer kriselnden und politisch kaum handlungsfähigen Landes. Sie hat es fest im Griff, obwohl sie innenpolitisch zuletzt geschwächt wirkte. Ihr militärischer Zweig wird von der EU als Terrororganisation eingestuft, als Partei saß die Hisbollah seit den 1990er Jahren im libanesischen Parlament, war bis 2022 sogar mehrere Jahre Teil der Regierung, die auch nach zwölf gescheiterten Versuchen einer Präsidentschaftswahl immer noch im Amt ist.
Würde die Hisbollah nun Erzfeind Israel mit aller Macht von Norden aus angreifen und eine zweite Front eröffnen, könnte das für Jerusalem ein Desaster bedeuten. Denn die Hisbollah weiß im Gegensatz zur Hamas besser, wie man militärstrategisch vorgeht und wie kampferprobte Kräfte und die geschätzten 150.000 Raketen, die die israelischen Abwehrsysteme laut Experten überfordern könnten, einzusetzen sind.
Israel hielt bis 2000 Teile des Libanon besetzt, dann musste sich das Militär zurückziehen. Diesen Schritt feiert die Hisbollah bis heute als Sieg des Guerillakrieges. Der letzte Krieg zwischen Israel und der Miliz im Jahr 2006 dauerte 34 Tage und endete in einer Pattsituation. Die Hisbollah gilt als verantwortlich für Anschläge auf jüdische und israelische Ziele im Ausland, darunter die Autobombenanschläge auf ein jüdisches Gemeindezentrum in Argentinien im Jahr 1994, bei denen fünfundachtzig Menschen getötet wurden.
Abschreckung oder Vorbereitung auf großen Angriff?
Sowohl Israel als auch die Terrormiliz haben über die Jahre angedeutet, dass ein neuer Krieg zwischen ihnen von größerem Ausmaß sein würde als der von 2006. Doch beide Seiten scheinen ihn nicht zu wollen. Noch nicht? Israel möchte unbedingt eine zweite Front verhindern und nicht einem gut ausgestatteten Instrument des Iran gegenüberstehen. Außerdem hat Jerusalem seit Langem erkannt, dass im Falle eines Krieges mit der Hisbollah der Einsatz von Luftstreitkräften allein nicht ausreichen wird, um die Organisation zu besiegen. Hohe Verluste bei einem Einsatz von Bodentruppen wären unvermeidbar. Deshalb fielen dieser Tage sowie in den vergangenen Jahren die israelischen Reaktionen auf Provokationen der Hisbollah sorgfältig kalibriert aus.
Sind die jüngsten Grenzangriffe nur Abschreckung oder Vorbereitung auf einen größeren Angriff? In dieser Anfangsphase scheint es, als wolle auch die Hisbollah ihre Aktionen unterhalb einer bestimmten Schwelle halten, um Israel nicht zu einer stärkeren Vergeltung zu zwingen. Experten glauben, dass die Gruppe aber nicht auf einen offenen Krieg mit Israel oder den USA aus ist und weiterhin auf verdeckte Operationen und terroristische Aktivitäten setzen wird, um auch innenpolitisch nicht an Macht zu verlieren.
Die libanesische Terrormiliz hat aber schon seit einiger Zeit signalisiert, dass ein Einmarsch in den Gazastreifen, wie Jerusalem ihn dieser Tage mutmaßlich vorbereitet, für sie eine rote Linie wäre. Aus Angst vor verheerenden Luftangriffen Israels verlassen viele Menschen im Südlibanon schon ihre Häuser, die Schulen bleiben geschlossen. Das letzte Wort darüber, ob die Hisbollah in einen Krieg mit Israel zieht, hat jedoch der Iran.
Israel und Erzfeind Iran
Hanin Ghaddar vom Washington Institute for Near East Policy schreibt auf X, dass die Hisbollah sich zwar anders als 2006 nicht mehr auf Saudi-Arabien und andere Golfstaaten verlassen könne, ein zerbombtes Libanon wiederaufzubauen. "Aber wenn dieser Krieg für den Iran extrem wichtig ist", so Ghaddar weiter, das heißt "es ist wirklich DER Krieg - wenn die nächsten Schritte geplant sind - dann wird die Hisbollah daran beteiligt sein."
Es hängt also vieles, wenn nicht sogar alles, am Iran. Die islamische Republik möchte wohl nicht die Hisbollah, das stärkste externe Werkzeug des Landes, in einen aussichtslosen Krieg mit Israel verwickeln, um die Hamas in Gaza zu unterstützen. Doch glaubt Teheran, ein Stellvertreterkrieg mit Israel könne die Isolation des Iran in der Welt beenden, die regionale Dynamik zugunsten des Landes verändern und weitere saudisch-israelische Normalisierungen beenden, dann könnte auch die Hisbollah mit voller Macht in den Konflikt geworfen werden. Einen Konflikt, der dann sogar globale Auswirkungen annehmen könnte. In den auch Irans Verbündete Syrien und Russland hineingezogen werden könnten.
Jerusalem weiß, dass die größte Bedrohung für die nationale Sicherheit vom Iran und von der Hisbollah ausgeht, nicht von der Hamas. Geschult, ausgebildet, motiviert, ausgestattet - der vielleicht härteste Feind, dem Israel je gegenüberstand. Der Krieg der Worte, er droht real zu werden.