Die Hauptstadt Berlin macht ihrem Ruf alle Ehre, ausgerechnet bei Wahlen. Vertauschte oder fehlende Wahlzettel und Stimmabgaben weit nach 18 Uhr sorgen für viel Kritik. Doch rechtfertigt das eine Anfechtung der Wahl? Experten sind skeptisch.
Lange Schlangen vor Wahllokalen sind eigentlich ein gutes Zeichen, zeigen sie doch das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an der politischen Mitbestimmung. Anders in Berlin: Die Schlangen am Wahlsonntag waren Zeichen von Pannen und Chaos. Fehlende oder vertauschte Wahlzettel, ratlose Wahlhelfer, Kuriere, die im Stau steckenbleiben, und Stimmabgaben bis weit nach 18 Uhr - das sorgte nicht nur bei betroffenen Bürgern und in den sozialen Medien für scharfe Kritik. Auch der Bundeswahlleiter fordert einen "detaillierten Bericht".
Doch ist eine erfolgreiche Anfechtung der Wahl dadurch wahrscheinlich? Könnte es also Neuwahlen in Berlin geben - die nicht nur die Wahl zum Abgeordnetenhaus, sondern auch zum Bundestag durcheinanderwirbeln könnten?
Experten sind da skeptisch. "Eine Neuwahl gibt es nur bei groben Versäumnissen und die muss der Berliner Verfassungsgerichtshof feststellen", zitiert t-online den Wahlrechtsexperten Matthias Cantow von der Seite Wahlrecht.de. SPD und Grüne würden sicher nicht dagegen vorgehen. Dennoch hält Cantow die Pannen in Berlin für "problematisch". Er verweist auf die im Wahlrecht festgelegte Regel, dass niemand weggeschickt wird, der sich bis 18 Uhr angestellt hat. Aber: Diese Regel stamme noch aus einer Zeit vor dem Smartphone. "Man nimmt es hin, dass einige Menschen wählen, wenn die Prognosen bereits bekannt sind."
"Peinlich ist es natürlich für Berlin"
Ähnlich äußerte sich der Kommunikationsforscher Frank Brettschneider. Auch er hält eine Wahlanfechtung für sehr unwahrscheinlich. "Aber peinlich ist es natürlich für Berlin", sagte er dem Sender RBB. Der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer hält es für möglich, dass die Wahlentscheidung einzelner Menschen beeinflusst wird, wenn sie nach der Bekanntgabe erster Prognosen ihre Stimme abgeben. "Das lässt sich aber nicht vermeiden", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Die Wahlleitung müsse allerdings unbedingt sicherstellen, dass sich niemand um 18.05 Uhr anstelle.
Für eine erfolgreiche Anfechtung der Wahl müsste laut dem Berliner Staatsrechtler Christian Pestalozza nachgewiesen werden, dass es durch die Prognose zu einer Beeinflussung gekommen sei. Dann müsste außerdem nachgewiesen werden, dass sich dadurch auch etwas in der Sitzverteilung ändern würde, sagte er der "Berliner Zeitung".
Wahrscheinlich ist das nicht. Zwar ist das lange Anstehen ärgerlich für die Betroffenen - doch entscheidend für eine erfolgreiche Anfechtung ist nicht die Wartezeit vor dem Wahllokal, sondern, ob die Stimmen korrekt abgegeben werden können. Das gilt auch, wenn laut Berichten in sozialen Netzwerken einige Menschen angesichts der langen Schlangen entnervt nach Hause gingen.
Keine Verzerrungen angesichts der teils stark verspäteten Stimmabgabe erwartet die Berliner Landeswahlleiterin Petra Michaelis. "Ich gehe davon aus, dass die Leute, die sich in der Schlange angestellt hatten, noch unbeeinflusst ihre Stimmen abgeben konnten und dass sich daraus keine Wahlfehler ergeben", sagte sie dem RBB. Ihr sei gemeldet worden, dass alle Menschen ihre Stimme abgeben konnten, die sich bis 18 Uhr vor einem Wahllokal angestellt hätten.
Wahlleiterin unter Druck
Kritische Fragen muss sich Michaelis dennoch gefallen lassen - nicht nur vom Bundeswahlleiter. Auch Berlins Justizsenator Dirk Behrendt von den Grünen und die Spitzenkandidatin der Partei, Bettina Jarasch, forderten Aufklärung. Er habe "Fragen an die Verantwortlichen in den Bezirken und an die Innenverwaltung", sagte Behrendt. Schwerwiegender als eine Stimmabgabe nach 18 Uhr sei, "wenn es die falschen Wahlzettel gab, wenn gar nicht gewählt werden konnte". CDU-Generalsekretär Stefan Evers sprach von einer chaotischen Wahl. "Wenn zahlreiche Wähler noch in der Schlange am Wahllokal stehen, während die ersten Prognosen über den Bildschirm laufen, ist die Wahl nicht mehr vor Beeinflussung geschützt."
In einigen Wahllokalen wurden Stimmzettel für die Abgeordnetenhauswahl aus den Bezirken Friedrichshain/Kreuzberg und Charlottenburg/Wilmersdorf vertauscht. Die Wahllokale mussten deshalb vorübergehend schließen. In einigen Wahllokalen gingen laut Berichten schon gegen Mittag die Stimmzettel aus. Nachlieferungen gestalteten sich teils schwierig, vereinzelt machten sich Wahlhelfer im Auto, zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf den Weg.
Letzteres kann sich Wahlleiterin Michaelis nach eigener Aussage nicht erklären. "Wir haben natürlich für alle Wahlberechtigten für alle Wahlen, die anstehen, ausreichend Stimmzettel bestellt", sagte sie. Es seien prozentual auf die Wahlberechtigten 110 bis 120 Prozent Stimmzettel verfügbar gewesen. Die Auslieferung der Stimmzettel könne aber durch den ebenfalls am Sonntag stattfindenden Berlin-Marathon behindert worden sein. "Die Vielzahl der Ereignisse ist für die Abhaltung einer Wahl nicht das Beste", sagte sie.
Am Tag nach der Wahl räumte Michaelis dann verschiedene Probleme ein: falsche oder zu wenige Stimmzettel sowie viel zu lange Schlangen vor den Wahllokalen. Personelle Konsequenzen lehnte sie aber zunächst ab. Für eine Aufgabe ihres Amtes sehe sie derzeit keinen Grund, sagte sie. Unklar bleibt weiterhin, wie viele Wahllokale von den Problemen betroffen waren, wie viele Stunden Wähler warten mussten und wann die letzte Stimme abgegeben werden konnte. Das müsse jetzt mit einer Bestandsaufnahme geklärt werden, sagte Michaelis, die gleichzeitig auf die organisatorische Verantwortung der zuständigen Bezirkswahlleitungen verwies. Dort werden Stimmzettel bestellt und verteilt.
Quelle: ntv.de, mit dpa