Boris Johnson bricht die Verhandlungen mit der EU über künftige Wirtschaftsbeziehungen doch nicht wie angedroht endgültig ab. Das zeigt, wie sehr sich die britische Seite in ihrer Verhandlungsstrategie verkalkuliert hat. In dieser Einsicht liegt aber auch eine Chance - für beide Seiten.
Diesen Poker hat Boris Johnson verloren: Im Moment der Wahrheit ist sein Blatt zu niedrig, der mögliche Einsatz zu hoch. Der britische Premier bleibt am Tisch sitzen, anstatt seinen Gegenspielern triumphierend den Rücken zuzukehren. Seine Gegner, die 27 Staats- und Regierungschefs der EU sowie die EU-Kommission, haben sich von Johnsons demonstrativer Bereitschaft, einen harten Bruch hinzunehmen, einfach nicht beeindrucken lassen. Das von Johnson für Mitte Oktober angedrohte Ende der Verhandlungen an diesem Freitag war ein Bluff.
Die Gespräche über die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien ab dem 1. Januar werden voraussichtlich weitergehen. Auch wenn Johnson das an diesem Freitagmittag noch nicht einräumen will, sondern die Fassade des zu allem entschlossenen Spielers aufrechtzuerhalten versucht. Doch seine erste Reaktion auf den für ihn enttäuschend verlaufenen EU-Gipfel öffnet eine Hintertür für weitere Gespräche. Und das ist gut so.
Die EU müsse ihrerseits zu Zugeständnissen bereit sein, damit es weitergehen könne, sagte Johnson. Eben diese Bereitschaft hat Bundeskanzlerin Angela Merkel nun noch einmal betont. Die übrigen EU-Länderchefs sowie EU-Verhandlungsführer Michel Barnier wollen ebenfalls keinen harten Deal. Ein paar Bekräftigungen grundsätzlichen Kompromisswillens ihrerseits werden voraussichtlich genügen, damit der britische Verhandlungsführer David Frost ohne großen Gesichtsverlust für Johnson mit der EU-Seite weiter feilschen kann.
London irrt an entscheidender Stelle
Johnson und seine Berater haben sich, wie auch zuvor schon Ex-Premierministerin Theresa May, in einem Punkt getäuscht: Die wirtschaftlich schwer angeschlagene und oft zerstritten auftretende EU ist ihrerseits sehr wohl willens, im schlimmsten Fall einen harten Bruch hinzunehmen. Zumindest eher, als in zentralen Themen wie gleichen Wettbewerbsbedingungen oder in der Nordirland-Frage den Briten nachzugeben.
Weil aber diese Fehleinschätzung seit Jahren die britische Brexit-Politik prägt, gleichen die Verhandlungen über die Wirtschaftsbeziehungen ab 1. Januar 2021 von Anfang an zwei aufeinander zurasenden Autos, deren Fahrer es darauf anlegen, dass der jeweils andere zuerst ausweicht. So eine Verhandlungsstrategie ist der Bedeutung der Gespräche, deren Ausgang das Leben vieler Millionen Menschen prägen wird, nicht nur unangemessen. Sie ist auch hochriskant.
Boris Johnson hatte versucht, mit einem neuen Gesetz seine ganze rücksichtslose Entschlossenheit zu demonstrieren, um die kontinentaleuropäische Gegenseite zu beeindrucken. Dieses Gesetz soll es der britischen Regierung erlauben, zentrale Regelungen des Brexit-Vertrags zum Status Nordirlands - das de facto Teil der europäischen Zollunion bleibt - auszuhebeln. London wollte so die Kosten eines harten Bruchs für die EU erhöhen. Gleichzeitig steigerte Johnson den Zeitdruck, indem er ein Ende der Verhandlungen ankündigte, wenn bis zum gestrigen EU-Gipfel keine Einigung stehe.
Die Zeit läuft ab
Das hat nicht funktioniert, die EU ist hart und - das ist besonders bemerkenswert - einig geblieben. Johnson stimmt nun seine Mitbürger auf die "Australien-Lösung" ein, was positiver und konstruktiver klingen soll als "harter Bruch". Tatsächlich aber besteht zwischen der EU und Australien nur Einigkeit über die gegenseitige Anerkennung bestimmter technischer Standards. Zwischen beiden Wirtschaftsräumen gehandelte Güter aber müssen kontrolliert und verzollt werden. Ein Albtraum für die ohnehin schon Corona-gebeutelte Wirtschaft Großbritanniens.
Das weiß auch Johnson, der zwar tatsächlich zu einem harten Bruch bereit scheint, ihn aber unmöglich einer Einigung vorziehen kann. Es ist daher eine gute Nachricht, dass Johnson seine Drohung nicht wahr gemacht hat, und damit zu erkennen gibt, dass auch er eigentlich einen Deal will. Das Team um EU-Verhandlungsführer Barnier sollte diese Chance nutzen und mit tatsächlichen Zugeständnissen schnell eine Einigung herbeiführen. Die Zeit, einen von beiden Seiten nicht gewollten Crash zu verhindern, ist nämlich fast abgelaufen.
Quelle: ntv.de