Ex-Premier vor Kommission Johnsons Corona-Politik: Wie ein herumeiernder Einkaufswagen
06.12.2023, 10:08 Uhr Artikel anhören
Ex-Premier Johnson machte in der Corona-Pandemie zahlreiche zweifelhafte Aussagen.
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Großbritannien beschreitet in der Corona-Pandemie lange einen eigenen Weg. Hauptverantwortlich dafür ist der damalige Premier Johnson. Nun muss er vor einer Kommission Rede und Antwort stehen. Seine einstigen Weggefährten zeichnen ein katastrophales Bild seiner Politik.
Die gute Nachricht für Boris Johnson: Ein offizielles Urteil über seine von vielen als desaströs empfundene Corona-Politik wird es nicht geben. Doch angenehm dürfte die stundenlange Befragung vor der unabhängigen Untersuchungskommission für den britischen Ex-Premierminister nicht werden. Brennende Fragen sind zu erwarten, die seit der Pandemie im Raum stehen.
Wieso zögerte er mit dem ersten Lockdown? Hat er wichtige Sitzungen verpasst, weil er lieber an einer Shakespeare-Biografie schrieb? Wie kam es zur "Partygate"-Affäre um illegale Feiern in der Downing Street? Und hat Johnson überhaupt kapiert, was ihm seine Wissenschaftler damals erklärten? Angeblich fragte er einmal ernsthaft, ob man das Coronavirus nicht stoppen könne, indem man sich mit einem speziellen Fön in die Nase blase.
Seit Wochen befragt die "Covid-19 Inquiry", die Johnson noch als Premier selbst ins Leben gerufen hatte, unter Vorsitz der früheren Richterin Heather Hallett hochkarätige Zeugen. Ehemalige Minister sagten ebenso aus wie die wissenschaftlichen Ratgeber der Regierung oder auch Johnsons Ex-Chefberater Dominic Cummings. Der wurde einst als "graue Eminenz" bezeichnet, aber ist seinem früheren Vorgesetzten längst in herzlicher Abneigung verbunden - und ließ kein gutes Haar an Johnson. Der Ex-Regierungschef sei wie ein herumeiernder Einkaufswagen: Er neige dazu, sich ständig zu wenden und die Meinung zu ändern.
Daten sollen Johnson verwirrt haben
Doch auch andere Zeugenaussagen geben kein vorteilhaftes Bild ab. Johnsons Ex-Kommunikationschef Lee Cain etwa sagte, die Pandemie sei die "falsche Krise" für Johnsons "Fähigkeiten" und warf ihm Zaudern und Verzögern vor. Ex-Gesundheitsminister Sajid Javid sagte, Cummings sei der eigentliche Premierminister gewesen - nur nicht dem Titel nach. Der frühere wissenschaftliche Chefberater Patrick Vallance gab an, Johnson sei von Forschungsdaten verwirrt gewesen.
Bekannt wurden auch zahlreiche explosive Whatsapp-Nachrichten. Darin schrieb der oberste Regierungsbeamte Simon Case etwa über Johnson: "Regieren ist eigentlich gar nicht so schwer, aber dieser Typ macht es wirklich unmöglich." Die Regierung wirke wie ein "tragischer Scherz". Johnson ändere seine Strategie täglich. Die Nachrichten deuteten auf eine Kultur der Hinterlist und Verachtung im Regierungssitz hin, kommentierte der Sender Sky News.
Die frühere Top-Beamtin Helen MacNamara nannte die Atmosphäre unter Johnson sexistisch, toxisch und so furchtbar, wie sie es noch nie erlebt habe. Wegen seiner "machohaften, selbstbewussten" Art sei das Regierungsteam zu Pandemie-Beginn ungemein starrköpfig gewesen. Vor allem Cummings schimpfte in Chatnachrichten wiederholt in vulgärem Ton über Mitarbeiterinnen wie MacNamara, Kabinettsmitglieder nannte er einmal "nutzlose verdammte Schweine" und forderte mehrmals den Rauswurf von Ministern oder Beamten.
Johnson soll Leichenberge einem Lockdown vorgezogen haben
Aber auch einige von Johnsons Kommentaren dürften Fragen hervorrufen. So soll der damalige Premier im Herbst 2020 gesagt haben, lieber würde er "die Leichen sich stapeln lassen", als einen neuen Lockdown zu verkünden - was er bald darauf doch tat. Laut Ex-Berater Vallance sagte Johnson ein andermal, "Corona ist die Weise, wie die Natur mit alten Menschen umgeht". Sie sollten doch ihr Schicksal akzeptieren.
Ausreichend Anschuldigungen sind vorhanden, um den zu emotionalen Ausbrüchen neigenden Johnson zu provozieren. Wie britische Medien berichteten, will der 59-Jährige den Vorwürfen sachlich begegnen. Ja, seine Regierung habe Fehler gemacht, wird der populistische Politiker demnach sagen. Aber zugleich betonen, dass er bei den großen Linien recht gehabt habe - seine Entscheidungen hätten Zehn-, wenn nicht Hunderttausende Leben gerettet. Warum er häufig seine Meinung geändert habe? Weil er so viele und so viele wechselnde Ratschläge erhalten habe - unter großem Druck, die richtige Entscheidung zu treffen. Warum er solch "farbenfrohe" Sprache verwendet und in privatem Rahmen provokative Positionen vertreten habe? Weil er damit das Beste aus seinen Beratern herausholen wollte. Führende Politiker wie Bauminister Michael Gove sprangen Johnson zur Seite. Ex-Gesundheitsminister Matt Hancock machte vor allem Ex-Berater Cummings für die schlechte Atmosphäre verantwortlich.
Kommissionschefin Hallett kann kein Urteil fällen. Aber vor allem Angehörige der 227.000 Menschen, die laut Sterbeurkunden im Vereinigten Königreich an Covid-19 starben, werden genau hinhören, was Johnson sagt - und wie. "Ein Land wird zuschauen und warten: auf Kontrolle, Rechenschaftspflicht und Antworten", kommentierte die BBC.
Quelle: ntv.de, Benedikt von Imhoff, dpa