Nadelstichtaktik in der Ukraine? Kommandotrupps dringen über den Dnipro vor
09.08.2023, 17:40 Uhr Artikel anhören
Aufklärung per Drohne (Archivbild): Am Dnipro-Ufer tun sich Schwachstellen auf.
(Foto: picture alliance / abaca)
Im Krieg in der Ukraine sieht sich das russische Militär mit einer neuen Bedrohung konfrontiert: In der Region Cherson dringen ukrainische Spezialeinheiten über den Dnipro vor. Entsteht im Rücken der Saporischschja-Front eine neue Kampfzone?
Im Süden der Ukraine verdichten sich die Hinweise auf neue Angriffspläne der ukrainischen Streitkräfte. Am Unterlauf des Dnipro kam es zuletzt offenbar zu Gefechten auf der südlichen Uferseite. Nahe der Ortschaft Kosatschi Laheri soll ukrainischen Kommandotrupps die Überquerung des Flusses gelungen sein. Das Dorf liegt knapp 30 Kilometer östlich der Stadt Cherson am linken Flussufer des Dnipro - etwa auf halber Strecke in Richtung Nowa Kachowka.
Das fragliche Gebiet steht seit den ersten Wochen des Krieges unter russischer Kontrolle. Die Einheiten des Kreml konnten sich hier bisher vergleichsweise sicher fühlen. Der Frontabschnitt galt lange als stabil und sicher: Seit dem russischen Rückzug über den Fluss im vergangenen Herbst schirmte das breite Tal des Dnipro-Stroms die russische Besatzungszone von der freien Ukraine ab.
Die natürlichen Gegebenheiten schienen die Russen bisher zu begünstigen: Der Dnipro wirkt wie eine mächtige Barriere. Die Zerstörung des Staudamms bei Nowa Kachowka Anfang Juni überschwemmte die Uferbereiche und erschwerte die Überquerung des Flusses zusätzlich. Schon vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine gab es in der Region auf einem fast 100 Kilometer langen Abschnitt nur drei Brücken über den Fluss: Die Antoniwka-Brücke bei Cherson, die Eisenbahnbrücke sechs Kilometer stromaufwärts und die Straßen- und Schienenverbindung über den Kachowka-Damm.
Diese drei Querungen sind längst nicht mehr passierbar: Die Russen sprengten die Antonwika-Brücke und die Schienenbrücke bei Cherson bei ihrem Abzug aus der Stadt im vergangenen Herbst. Und der Bruch des Kachowka-Staudamms riss nebenbei auch die Fundamente der Fernstraße von Krywyj Rih Richtung Melitopol mit sich. Gekappt war die Dammbrücke schon zuvor, wie unter anderem auch Satellitenbilder belegen. Der Großteil der Region Cherson ist von den befreiten Gebieten am rechten, nördlichen Flussufer so gut wie abgeschnitten.
Die Lage am Unterlauf des Dnipro:

Schauplatz der Gefechte bei Kosatschi Laheri am Unterlauf des Dnipro: Satellitenaufnahme vom 7. August 2023
(Foto: © Sentinel Hub / ESA)
Die Berichte über die Gefechte bei Kosatschi Laheri stützen sich bisher vor allem auf Angaben aus der russischen Militärblogger-Szene und die vielsagenden Dementis der Besatzungsbehörden: Die Ortschaft sei wieder fest in russischer Hand, heißt es. Der Angriff sei zurückgeschlagen. Kiew hält sich zunächst noch bedeckt. Satellitendaten belegen zumindest erhöhte Aktivitäten in der Region: Ein Nasa-System zur Überwachung der weltweiten Waldbrandlage registrierte in den vergangenen Tagen nahe der Ortschaft auffallend viele Feuererscheinungen.
Doch wie gelangen ukrainische Stoßtrupps über den Strom? Seit den Sprengungen führt in der gesamten Region kein trockener Weg mehr über den Unterlauf des Dnipro. Von der Stadt Cherson aus liegt die nächste sichere Straßenbrücke über den Fluss erst 300 Kilometer nordöstlich bei der ukrainischen Großstadt Saporischschja.
Sicher ist: Für Aufklärungsdrohnen und Schnellboote liegt das linke Dnipro-Ufer nicht weit entfernt: Der Fluss selbst ist bei Cherson weniger als 500 Meter breit. Dazu kommen zahlreiche Nebenarme, Altwasser und sumpfige Gebiete. Abseits vom Hauptfahrwasser erstreckt sich das Flusstal über mehrere Kilometer in die Breite. Die russischen Stellungen bei Oleschky zum Beispiel liegen gut vier Kilometer von der ukrainischen Seite entfernt.
Bei Kosatschi Laheri dagegen stellt sich die Lage etwas anders dar: Hier windet sich der Dnipro in einer lang gezogenen Flussbiegung nach Südwesten in Richtung Meer. Am südlichen Ufer folgt der Nebenfluss Konka dem Dnipro. Drei Kilometer westlich des Ortsrandes schiebt sich ein breiter, flacher Landvorsprung vor, der weiter flussabwärts von einem kleinen Waldstück und unbesiedeltem Ödland abgeschirmt wird. Vom höher gelegenen Steilufer im Norden aus kann die gesamte Uferzone von drei Seiten aus unter Feuer genommen werden.
Blick auf die Kinburn-Halbinsel
Das ukrainische Militär beobachtet am Dnipro jede Truppenbewegung auf der gegenüberliegenden Uferseite genau - auch weil russische Artillerie immer wieder über den Fluss schießt und dabei auch das Stadtgebiet von Cherson nicht verschont. Das Kalkül der Ukrainer: Sobald sich eine Schwachstelle in den Reihen der russischen Stellungen auftut, können ukrainische Kommandoeinheiten ausschwärmen und zuschlagen. Der ukrainische Vorstoß bei Kosatschi Laheri ist womöglich Teil einer größeren Strategie der Nadelstiche.
Ende November zum Beispiel kam es im Mündungsgebiet des Dnipro bereits zu Gefechten auf der Kinburn-Halbinsel, die zeitweise zu großer Unruhe unter russischen Militärbloggern führte. Die exponierte Lage des schmalen, bewaldeten Dünenstreifens am Schwarzen Meer bereitete der russischen Militärplanung erhebliche Probleme. Seit Monaten sind größere Truppenkontingente damit beschäftigt, die Ukrainer von weiteren Vorstößen über den Fluss abzuhalten.
Blick auf den Antoniwka-Brückenkopf
Die unübersichtlichen Flusswindungen des Dnipro mit seinen zahlreichen Inseln und Sumpfgebieten bieten reichlich Gelegenheiten für solche Kommandoaktionen: Im Schutz der Nacht dringen ukrainische Einheiten über die offenen Wasserflächen vor, um vorgeschobene russische Stellungen anzugreifen. Große Teile der Flussinseln bei Cherson konnten so bereits der russischen Kontrolle entzogen werden. Die Russen müssen zusätzliche Truppen zur Bewachung in die Region verlegen.
Ende Juni gelang es den Ukrainern, im Schutz der zerstörten Antoniwka-Brücke eigene Stellungen am linken Dnipro-Ufer auszubauen. Der gut gedeckte Brückenkopf ermöglichte zwar keinen größeren Ausbruch. Zwischen der Zufahrtsrampe und den russisch besetzten Gebieten liegen weitere Dnipro-Nebenarme. Der Vorstoß machte dennoch die Verlegung weiterer russischer Kampfverbände erforderlich - Soldaten, die den Russen an anderer Stelle der Front fehlen.
Die Kräfte der Besatzungsarmee wirken insgesamt längst überdehnt. Es fehlt offenbar an Truppen in ausreichender Stärke, um das gesamte Flussufer im Blick zu behalten und die Ukrainer von solchen Nadelstich-Angriffen abzuhalten. Und seit dem Dammbruch ist entlang des leergelaufenen Kachowka-Staubeckens eine weitere offene Flanke entstanden, an der ukrainische Kommando-Aktionen drohen.
Es gibt Anzeichen dafür, dass die russische Seite das Ausmaß der Problematik erkannt hat: Mit schweren und schwersten Kalibern ließen Putins Generäle die vermuteten ukrainischen Positionen an der Antoniwka-Brücke beschießen. Gleitbomben, Brandmunition und Raketen gingen auf die Siedlungen und Uferbereiche am Dnipro nieder: Der massive Beschuss soll offenkundig russische Lücken am Boden decken. Unklar war zuletzt, ob sich an den beschossenen Stellen überhaupt noch ukrainische Soldaten aufhalten. Womöglich sind sie längst ausgewichen oder haben sich über den Fluss zurückgezogen.
Der Kreml kann die Anlandungen am Dnipro dennoch nicht ignorieren: Dicht bei Kosatschi Laheri verläuft mit der Fernstraße M-14 eine wichtige russische Nachschubroute nah am Ufer. Sollten sich ukrainische Kommandotrupps in der Region festsetzen, drohen im Hinterland Überfälle auf die russischen Verbindungslinien.
Noch gefährlicher für die Besatzungsarmee wäre es, wenn die Kontrolle über das Flussufer verloren ginge und das Gebiet nicht mehr im unmittelbaren Wirkungsbereich der russischen Artillerie läge: Denn dann hätten die ukrainischen Streitkräfte eine realistischere Chance, eine größere Landungsoperation am Unterlauf des Dnipro zu starten.
Quelle: ntv.de