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Reporter im libyschen Darna "Leichen stecken in meterhohem Schlamm"

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(Foto: Jürgen Weichert)

Massive Regenfälle und Dammbrüche sorgen in Libyen für eine Katastrophe. Tausende Menschen kommen ums Leben. Längst sind nicht alle Opfer geborgen. Die Sicherheitslage im Bürgerkriegsland erschwert die Hilfen - und die Berichterstattung. ntv-Reporter Jürgen Weichert schildert seine Eindrücke.

ntv.de: Wie ist die Lage in Libyen nach der Flutkatastrophe?

Jürgen Weichert: Tausende Menschen sind ertrunken, Tausende werden immer noch vermisst. Die Lage ist nach wie vor katastrophal.

Warum gibt es nur so wenig Besserung?

Weil Libyen ein Land ist, in dem der Bürgerkrieg noch sehr präsent ist. Ein Land mit sehr unübersichtlichen Machtstrukturen und Machtverhältnissen. Zwei konkurrierende und zerstrittene Regierungen und Armeen.

Wenn man Bilder aus Darna sind, versteht man sofort, warum Tausende Menschen ertrunken sind…

In der Tat. Über Kilometer sind Häuser, Straßen, Wohngebiete einfach weggespült, verschwunden. Da wurde vieles sprichwörtlich "auf Sand gebaut". Da steht jetzt kein Stein mehr auf dem anderen, man erkennt teilweise noch nicht mal, wo da die Häuser oder Straßen waren. Einfach weg, nur rotbrauner Schlamm und Sand ist übriggeblieben. Man steht dort auf einer Anhöhe und kann sich plötzlich bildlich vorstellen, wie und warum Tausende Menschen hier ihr Leben verloren haben. Die Wassermassen, die Regenfälle waren unglaublich.

Wie sieht es im Umland von Darna aus?

Alle reden vor allem von Darna, wenn man über die Flut in Libyen redet. Aber wir sahen auf unserer Fahrt durch den Osten Libyens zerstörte Städte und Dörfer über eine Strecke von mehr als 100 Kilometer. In der Stadt Susa zum Beispiel sind ebenfalls Menschen und Häuser ins Meer gerissen worden. Wir sahen auch dort, Tage nach dem fürchterlichen Regen, noch Rettungsteams, die Leichen identifizierten. Und Häuser, die bis auf die Fundamente zerstört wurden. Und in den Küstenstädten- und Dörfern Libyens haben die Wassermassen sich anschließend nicht in Felder und Wiesen verlaufen können - sondern die Häuser und Menschen sind ins Meer gespült worden. Viele Menschen sind dann im Meer ertrunken.

Mediziner warnen davor, dass sich Seuchen in Darna und Umgebung ausbreiten könnten?

Die Gefahr ist real. Die Frischwasserversorgung ist zusammengebrochen. Rohre für Frischwasser und für Abwasser wurden zerstört. Kläranlagen, soweit vorhanden und Sickergruben für Fäkalien sind übergelaufen und ebenfalls zerstört. Wenn in unzerstörten Stadteilen noch Frischwasser aus den Wasserhähnen kommt, muss man damit rechnen, dass es mit Keimen belastet ist. Und oft stehen in Darna und den zerstörten Gebieten noch Schlammpfützen, in denen Fäkalien schwimmen oder Öl und Benzin. Frisches Wasser und Trinkwasser wird absehbar ein Problem bleiben. Trinkwasseraufbereitungsanlagen werden gebraucht. Die Seuchengefahr ist übrigens ein Grund, warum die Behörden Journalisten angewiesen haben, Darna und die Region zu verlassen.

Wird gegen die Trinkwasserproblematik etwas unternommen?

Bedingt. Man versucht, mit Hunderten LKW und mit Kleintransportern Trinkwasser und Trinkwasserflaschen heranzuschaffen. Inzwischen kann man sagen, dass es in Darna überall Trinkwasser aus Flaschen gibt. Das hat uns überrascht. Die libyschen Behörden haben das gut in den Griff bekommen. Interessant ist, dass Trinkwasser in Libyen teurer ist als Benzin. 50 Liter Benzin kosten für Libyer dort circa 5 Dollar. Wasser ist teurer.

Kann man die Flutkatastrophe in Libyen ansatzweise mit der im Ahrtal vergleichen?

Das Ahrtal und die Hochwasser in NRW und Rheinland-Pfalz waren fürchterlich. Aber die Ausdehnung, die Dimensionen und Zahlen lassen sich nicht vergleichen. In Libyen sind die Verluste an Menschenleben und die Sachschäden viel gravierender als im Ahrtal.

Nach wie vor sind die Opferzahlen nicht klar. Warum?

Tausende Menschen werden noch vermisst. Beziehungsweise Tausende Leichen konnten noch nicht geborgen werden. Weil sie in der Hafenstadt Darna ins Meer gespült wurden oder im teils meterhohen Schlamm stecken. Rund ein Fünftel der Stadt, die mal 120.000 Einwohner hatte, ist einfach weg oder zerstört. Und das ist nur die offensichtliche, ganz schlimme Misere.

Was denn noch?

Hinzu kommt, dass viele Menschen in Libyen Furcht haben, etwas falsch zu machen. Am besten nicht auffallen. Nicht zwischen die Räder der Regime kommen.

Ist der Machtkampf der Regime denn im Alltag zu spüren?

Das Auswärtiges Amt rät von Reisen nach Libyen ab. Alle Deutschen, die noch nicht das Land verlassen haben, werden zur Ausreise aufgefordert. Libyen herrscht seit dem Sturz und Tod des langjährigen Diktators Muammar al-Gaddafi 2011 Bürgerkrieg. Viele Menschen flohen oder wurden vor Ort in Lager eingepfercht und teils zu Kriegseinsätzen gezwungen. Verschiedene Akteure unterstützen die rivalisierenden Machtzentren Libyens. Auch Terrorismus ist ein Thema.

Die deutsche Botschaft ist derzeit geschlossen.

Richtig. Die diplomatische Vertretung wird aus dem Nachbarland Tunesien betrieben. Reisende können also vor Ort in Libyen nicht ohne weiteres auf die Deutsche Botschaft zählen.

War es in Libyen auch für euch gefährlich? Gab es auch brenzlige Situationen?

Wir wurden zu keiner Zeit bedroht. Aber Sorge und Furcht waren trotzdem präsent. Unser libyscher Fahrer und unser Übersetzer fühlten sich enorm unter Druck gesetzt. Die Kollegen hatten richtig Angst. Sie haben gezittert und wurden bleich, wenn Anrufe kamen. Sie wurden am Telefon zusammengestaucht und eingeschüchtert, was ihnen einfiele, fremde Journalisten ins Land und in die Stadt Darna zu bringen. Es wechselten Zusagen und Absagen. Genehmigungen wurden erteilt und einen Tag später widerrufen. Was in einem Ort richtig war, war am nächsten Ort falsch. Eine Behörde erlaubte etwas - die nächsten Behörde war darüber empört. Und Unberechenbarkeit ist einem Land wie Libyen gefährlich. Unseren Mitarbeitern wurde ganz klar signalisiert, wir sollten raus aus Darna. Blieben wir länger, würden sie als Libyer dafür verantwortlich gemacht.

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Was hätten Sie gerne noch gemacht?

Wir hätten noch gerne mehr berichtet. Aber all das war zum Schluss kaum mehr möglich. Ständig sollten wir uns verstecken, sollten dies und das nicht drehen, nicht zeigen. Beiträge über die Sorgen der Bürger von Darna und das Leben in den Flutgebieten hätten uns am Herzen gelegen. Und noch einen ausgesprochen positiven Beitrag hätten wir gerne produziert: Wir sahen russische Rettungskräfte in den Trümmern von Darna nach Menschen suchen. Dazu kamen deutsche Hilfslieferungen des THW Technischen Hilfswerkes. Eingeflogen mit Flugzeugen der Bundeswehr. Die Türkei hilft dort sehr viel. Spanische und griechische Suchtrupps helfen in Darna mit. All das hätten wir gerne gezeigt und zusammengefasst.

Quelle: ntv.de

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