Scholz redet auf SPD-Parteitag "Manches, was passiert ist, hätte ich echt nicht gebraucht"
09.12.2023, 12:11 Uhr Artikel anhören
Es ist der Höhepunkt des SPD-Parteitags: Der Bundeskanzler wendet sich an seine Genossen. Fast eine Stunde lang nordet er die Partei ein und verteidigt mit Verve den Sozialstaat. Kein anderes Wort fällt dabei so oft wie "Zuversicht" und "Perspektive". Zur Lösung der Haushaltskrise erfahren die Zuhörer nichts.
Fast fünf Minuten Applaus und im Anschluss ein lang gezogenes "Wow" von Saskia Esken. "Du hast unsere Herzen erwärmt", sagte die Bundesvorsitzende der Sozialdemokraten im Anschluss an die rund einstündige Rede des Bundeskanzlers auf dem Bundesparteitag in der Berliner Messehalle City Cube. Olaf Scholz hatte sich zuvor - exakt zwei Jahre und einen Tag nach seiner Vereidigung zum Bundeskanzler - ausführlich an seine Genossinnen und Genossen gewandt. "Wir müssen zusammenhalten und einen klaren Kurs haben", sagte Scholz gegen Ende seiner Rede. "Wenn wir das jetzt auch noch mit dem Haushalt hinkriegen und weiterhin einen guten Plan verfolgen", werden die Menschen "optimistisch in die Zukunft blicken können".
Wie genau die Haushaltskrise gelöst werden soll, gab Scholz nicht zu erkennen, zog aber unter tosendem Applaus eine rote Linie ein: "Es wird in einer solchen Situation keinen Abbau des Sozialstaats in Deutschland geben", sagte Scholz. Die Bundesregierung stehe "nicht vor unlösbaren Aufgaben". Es werde gelingen, eine gute Lösung zu finden. Zur wiederholten Uneinigkeit in der Ampelkoalition sagte Scholz: "Manches von dem, was da so passiert ist, hätte ich echt nicht gebraucht." Dafür gab es Lacher im Saal. In anderen Ländern Europas gebe es auch Streit. "Weil wir ja immer nur uns angucken, wissen wir nur von unserem", sagte der Bundeskanzler. Anderswo müssten zum Teil Koalitionen aus vier oder sieben Parteien Kompromisse finden. "Dann haben wir es eben auch nicht leicht", sagte Scholz mit Blick auf die Dreierkoalition in Berlin, ebenfalls unter Gelächter.
Ukraine-Hilfen weiter finanzieren können
Eingangs seiner Rede bedankte sich Scholz "für die gute Zusammenarbeit" bei Partei, Fraktion und Regierungsmitgliedern. "Das haben wir selten so gut geschafft", sagte der Kanzler mit Blick auf frühere SPD-geführte Regierungen. Sein besonderer Dank galt den beiden Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil, die am Vortag mit Ergebnissen von rund 83 respektive rund 86 Prozent wiedergewählt wurden. Die Partei halte zusammen. "Manche haben damit gerechnet, auf diesem Parteitag ist damit Schluss", sagte Scholz und meinte damit insbesondere die Medien. Tatsächlich war an den ersten zwei Tagen des Parteitags nur vereinzelt Kritik an der Partei- und Regierungsführung durch einen der rund 600 Delegierten zu hören.
Scholz führte einmal mehr aus, was die Regierung alles geschafft habe, von der Bewältigung der Energiepreiskrise über die Organisation des Zusammenhalts der westlichen Staatenwelt gegen Russland. "Es war der russische Präsident, der die russische Gasversorgung durch die heile Pipeline gestoppt hat", sagte Scholz. "Wir haben Deutschland durch diesen Winter gebracht." Deutschland werde nun in seiner finanziellen und militärischen Unterstützung der angegriffenen Ukraine nicht nachlassen.
Die Bundesregierung müsse "Entscheidungen treffen, die uns in der Lage halten, das tun zu können", sagte Scholz. Die SPD fordert, für das kommende Jahr unter Verweis auf die Belastungen des Ukrainekriegs erneut die Schuldenbremse auszusetzen. Die FDP lehnt das aber bislang ab. Eine Verabschiedung des Haushalts 2024 wird mangels Einigkeit in der Koalition aus SPD, Grünen und FDP nicht mehr im laufenden Jahr klappen. Auf das Reißen dieser ursprünglich von Sozialdemokraten erhobenen Frist ging Scholz nicht ein.
Ausgebliebene Mindestlohnerhöhung "nicht in Ordnung"
Weder die FDP noch CDU und CSU nannte Scholz beim Namen, verwandte sich aber gegen Angriffe auf den Sozialstaat durch andere Parteien. Nicht ein zu "üppiger Sozialstaat" sei das Problem, der Sozialstaat sei das Fundament des deutschen Wohlstands, "dass man nicht hoffnungslos aufgegeben wird, sondern immer wieder die Chance bekommt, für die eigenen Perspektiven zu kämpfen". Die Bundesregierung habe deshalb unter anderem den Mindestlohn, die Erwerbsminderungsrente, das Kindergeld und den Kindergeldzuschlag für arbeitende Geringverdiener erhöht. Die SPD habe Gesetze gemacht für eine Bevölkerungsgruppe, für die "lauter Leute ihr Herz für entdecken, die gar keinen daraus kennen", sagte Scholz mit Blick auf die Debatte über den Abstand zwischen Bürgergeld und Niedriglöhnen.
Scholz kritisierte, dass eine erneute deutliche Erhöhung des Mindestlohns in diesem Jahr ausgeblieben sei. "Was die Mindestlohnkommission da gemacht hat, war nicht in Ordnung", sagte Scholz. Die Vertretung der Arbeitgeberverbände habe in der Kommission mit dem Prinzip der einstimmigen Entscheidung zusammen mit den Arbeitnehmern gebrochen. Ferner fragte Scholz: "Ist es eigentlich in Ordnung, dass jemand ein Tarifgehalt bekommt, das unter 16 Euro liegt?" Er wolle auch weiterhin die Gewerkschaften im Streit für bessere Löhne unterstützen.
Ihn treibe eine Frage sehr um, sagte Scholz: "Wieso eigentlich werden jetzt überall diese rechtspopulistischen Parteien stärker?" Er zählte diverse EU-Länder genauso auf wie die USA und Deutschland. "Warum gibt es in all diesen Ländern, genauso auch bei uns, diese Unzufriedenheit und Unsicherheit?" Scholz machte die Ursachen an einer großen Verunsicherung angesichts der Veränderungen in der Welt fest. "Man muss daran glauben können, dass es für die eigenen Enkelinnen und Enkel gut ausgehen wird", sagte Scholz. "Dann ist Zuversicht begründet. Das ist das eine, was wir den rechten Populisten entgegensetzen müssen." Es folgte der fünfminütige Applaus, samt stehender Ovationen. Im Anschluss begann eine Aussprache zu der Rede des Kanzlers.
Quelle: ntv.de, Mitarbeit: Marc Dimpfel