"Die restliche Ladung" Wie Italien den Kampf gegen die Migranten führt
11.11.2022, 12:28 Uhr (aktualisiert)
Für "Ministerpräsident Meloni" sind die Migranten eine Möglichkeit, medienwirksam doch noch ein Wahlversprechen einzuhalten.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Große Spielräume hat die neue italienische Regierung nicht, weder finanziell noch außenpolitisch. Da kommen Migranten ganz gelegen, um den eigenen Wählern Härte zu demonstrieren. Nur darum geht es - um ein politisches Schauspiel.
Man sollte Verständnis für die Regierung von Giorgia Meloni haben. Sie sitzt in einer Zwangslage. Die Rechtskoalition der neuen italienischen Ministerpräsidentin hat praktisch keinen politischen Handlungsspielraum - außer beim Kampf gegen die Migranten. Der wird nun mit allen Mitteln geführt.
Das ist die Ausgangslage: Alle Illusionen über "freies Schuldenmachen", das Erfüllen der Wahlversprechen, darunter 1000 Euro Mindestrente für jedermann ab 60 Jahren, können sich die Italiener abschminken. Das weiß Meloni. Politisch ist das aber gefährlich für sie, denn es könnte die eigene Wählerschaft aufbringen. Weil Italien finanziell komplett am Tropf der EU hängt: Das Land muss Schritt für Schritt die Vereinbarungen für den Wiederaufbaufond der EU erfüllen, von dessen insgesamt 750 Milliarden Euro rund 200 in Italien ausgegeben werden sollen. Italien wurde bei der Verteilung bevorzugt, weil das Land im ersten Jahr der Covid19-Pandemie, 2020, am meisten gelitten hat. Auf einem anderen Blatt stünde die Verteilung unter den 27 EU-Ländern heute, nach fast drei Jahren Pandemie. Aber sei's drum, der Löwenanteil geht nach Italien.
Im Gegenzug muss Italien Reformen umsetzen, die das Land, wie es im nationalen Plan für Aufbau und Resilienz heißt, gegen Krisen widerstandsfähig und fit für die Zukunft machen sollen. Eines der wichtigsten Felder ist die Justiz, damit es nicht weiterhin im Schnitt vier Jahre dauert, bis man in Italien das endgültige Urteil in einem Zivilprozess erlebt. Zudem muss Italien die eigenen Märkte den europäischen Mitbewerbern öffnen, Privilegien abschaffen, die massive Steuerhinterziehung bekämpfen. Alles Maßnahmen, die bei vielen Wählern des Rechtsbündnisses überhaupt nicht gut ankommen. Ohne Reformen kommt aber kein Cash aus Brüssel, auch keine EZB-Stützungskäufe. Rom muss liefern, ohne lang zu diskutieren.
Auch außenpolitisch steckt die Regierung Meloni in der Zwangsjacke. Zweifel an ihrer NATO-Treue und an der Unterstützung der Ukraine gegen die russische Invasion darf sie nicht aufkommen lassen, auch sie würden letztlich den steten Geldfluss über die Alpen gefährden. Also hat der Herr Regierungspräsident Giorgia Meloni - das ist kein Schreibfehler: Giorgia Meloni will als il Presidente del Consiglio angesprochen werden, als Präsident des Ministerrats, obgleich das Italienische auch la Presidente angeboten hätte - die "Verteidigung der Grenzen" zur absoluten Priorität gemacht. Doch wer gefährdet die Grenzen Italiens?
Eigentlich klappte die Verteilung bislang gut und geräuschlos
"Ministerpräsident Meloni" weiß, dass "er" die politischen Erwartungen ihrer Wählerschaft nur innenpolitisch erfüllen kann. Wem gegenüber soll sich Meloni hart und unnachgiebig zeigen? Einen besseren Gegner als die Migranten gibt es nicht: Sie sehen anders aus, sprechen andere Sprachen, sind arm, habe keine Beziehungen und bringen kein Geld mit. Das ist ein wichtiger Punkt, denn reiche Ausländer sind natürlich auch mit anderer Hautfarbe und Kultur willkommen, wie die Anzahl der ausländischen Fußballclub-Besitzer in Italien belegt.
Also der Kampf gegen die Migranten. Aber gegen wen genau? Tatsache ist, dass in Italien in diesem Jahr 88.000 Migranten übers Mittelmeer kamen, 2021 waren es 56.000. Das ist nun wahrhaft keine "Invasion", auch wenn die Zahlen steigen. Und eigentlich war deren Ankunft und Verteilung über die anderen EU-Staaten bisher gut und geräuschlos geregelt.
Gehen wir ins Detail, den dort steckt ja bekanntlich der Teufel: Knapp 90 Prozent der Migranten kamen in diesem Jahr auf eigenen Booten nach Italien oder wurden von den Schiffen der Küstenwacht Italiens aus Seenot gerettet. Die NGOs haben zusammen rund 9000 Menschen aus Seenot gerettet, meist in den internationalen Gewässern vor Libyen.
Die bisherige Praxis Italiens war, den NGO-Schiffen - derzeit sind es vier im zentralen Mittelmeer - bei Bekanntwerden einer "Notlage" einen sicheren Hafen zuzuweisen, einen "Port of Safety" (POS), wo die Geretteten an Land gelassen wurden. Dort wurden sie identifiziert, und es wurde entschieden, ob sie Bleiberecht oder Asyl bekamen oder ob sie wieder abgeschoben werden sollten.
Die meisten Flüchtlinge reisten nach Deutschland weiter
Die Abschiebungen setzt Italien seit vielen Jahren mit einer Regel um, die man pragmatisch nennen könnte: Die Abzuschiebenden bekommen eine foglia di via, eine Abschiebeverfügung, in die Hand, in der steht, dass sie innerhalb einer Woche Italien mit eigenen Mitteln wieder verlassen müssen. Natürlich reisen die Migranten dann praktisch alle per Zug weiter, die meisten nach Deutschland. Während in den Jahren der Syrien-Krise an Italiens Küsten rund 800.000 Flüchtlinge anlandeten, stellte nur jeder vierte von ihnen einen Asylantrag in Italien. Die EU duldete dies bis heute stillschweigend, um Italien ruhigzustellen. Es waren ja keine großen Zahlen, und anders ließ sich die von Italien geforderte europäische Solidarität nicht organisieren.
Kommen wir zu den NGOs. Die Landung der Geflüchteten an Bord eines NGO-Schiffes beginnt grundsätzlich mit der Zuweisung eines POS für das Schiff. So regelt es das internationale Seerecht, die Konvention von Hamburg. Dabei spielt die Flagge, unter der ein Schiff fährt, überhaupt keine Rolle. Was ja auch nur logisch ist. Wenn ein Schiff unter chinesischer Flagge Schiffbrüchige vor Buenos Aires aufnimmt, würde ja auch niemand erwarten, dass die Reederei sie nach China mitnimmt, sondern sie müssen, so schreibt es die Konvention vor, "zum nächsten sicheren Hafen" gebracht werden.
Doch hier genau hakt die Regierung Meloni ein. Deutsche Flagge - Schiffbrüchige nach Deutschland, so ihre Logik. Norwegische Flagge - ab nach Norwegen. Mit dem Seerecht ist das unvereinbar, aber die Fragen der UN-Flüchtlingscharta, des Seerechts oder auch die Dublin-Regeln sind für die meisten Menschen böhmische Dörfer. Also funktioniert die Propaganda.
Juristische Tricks statt Bulldozer-Methode
Damit spielt die Regierung in Rom. Der neue Innenminister Matteo Piantedosi "macht es deutlich schlauer, als Matteo Salvini", meint die Juristin Vitalba Azzollini. Während Salvini, Chef der rechten Lega-Partei, in seiner Zeit als Innenminister "den Schaufelbagger" gespielt habe, "ist der neue Innenminister der Florettfechter. Er versucht, mit juristischen Spitzfindigkeiten die Landung der Geflüchteten, der Migranten, zu verhindern."
Ein Methodenwechsel des "Kampfes gegen die Migranten" war notwendig, weil Salvini den NGO-Schiffen einfach die Einfahrt verweigert hatte. Er ließ sie draußen warten, solange, bis Richter deren Aufnahme unter Androhung von Haft und Zwangsgeldern anordneten. Dafür hat Salvini auch noch einen Prozess in Sizilien laufen, in dem ihm Freiheitsberaubung vorgeworfen wird.
Die Salvini-Methode war also nicht richtig schlau, zu brutal, eben die Bulldozer-Methode. Was macht der neue Innenminister, in Absprache mit Salvini, der nun Transportminister ist? Piantedosis Plan besteht in drei Schritten, das sehen wir am Fall der NGO-Schiffe im Hafen von Catania.
Erstens: Die NGO-Schiffe dürfen in den Hafen einfahren. Aber sie bekommen die Hafeneinfahrt nicht als "Zuweisung eines POS" erlaubt, sondern die Hafenbehörde erlaubt ihnen einfach das Anlegen. Damit ignoriert man bewusst, dass sich Migranten an Bord befinden. Ohne POS-Anweisung werden die NGO-Schiffe wie jedes andere Schiff im Hafen behandelt. Der Kapitän hat damit kein Recht, die Migranten ans Rote Kreuz zu übergeben, das am Pier steht und wartet. Denn Migranten an Bord wurden ja nicht zum Anlass der Schiffseinfahrt erklärt. "Eine echte juristische Spitzfindigkeit", meint Azzollini.
Dann folgt die Selektion
Zweiter Schritt: Die Behörden gehen an Bord und suchen dort diejenigen aus, die sie für "hilfebedürftig" halten, in der Regel Minderjährige und Frauen. Im Italienischen heißt das selezione, Selektion. Kein schönes Wort, kein schönes Konzept. Es kommt aber noch schlimmer, im dritten Teil des Piantedosi-Plans, der exakt so kommuniziert wurde und umgesetzt wird: Nach der Selektion auf dem Schiff erteilte der Innenminister dem Kapitän der "Humanity 1", auf der sich noch 35 Flüchtlinge männlichen Geschlechts befanden, den Befehl, "den Hafen mit der restlichen Ladung wieder in Richtung internationale Gewässer zu verlassen". Auf Italienisch: con il carico residuale, mit der restlichen Ladung. Damit sind 35 Menschen gemeint, Flüchtlinge, deren Status niemand überprüft hat, die keinen Anwalt sehen durften. Was soll der Kapitän mit diesen Menschen nun machen? Auf einer Boje aussetzen?
Dagegen regt sich in Italien Widerstand, "unmenschlich", eine "Erinnerung an schlimmste Zeiten der Selektion", urteilten viele Kritiker.
Juristisch ist es ein klassischer Fall von "Refoulement", Zurückweisung ohne jegliche Einzelfallprüfung, für die Italien schon 2012 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt wurde. Aber es ist die neue Praxis in Italien: der Kampf gegen die Migranten als identitäre Maßnahme, in Ermangelung anderer Spielräume. Gegen Deutschland kämpft man über die Bande, nicht mehr direkt.
Dabei gäbe es einen viel direkteren Weg, um die Migration zu organisieren, die Anzahl zu reduzieren. Wir wissen, woher die Migranten kommen. Von den 88.000 Migranten dieses Jahres kamen 46.000 aus Ägypten, Tunesien und Bangladesch. Länder, mit denen Italien gute diplomatische Beziehungen unterhält. Warum bemüht sich die Regierung Meloni nicht um ein Abkommen mit diesen Ländern?
Sicher, ein Abkommen ist deutlich weniger medienwirksam als eine Phalanx von Polizisten in voller Montur, am Hafen von Catania aufgestellt, die einigen Dutzend armen Flüchtlingen mit martialischen Gesten den Landgang verwehrt.
(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 08. November 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de