PR-Stunt oder Coup? Nehammer sieht Putin-Besuch als Blaupause - auch für Scholz
11.04.2022, 21:09 Uhr
Karl Nehammer äußerte sich nach dem Treffen mit Putin - aber allein. Gemeinsame Fotos sollte es keinesfalls geben.
(Foto: dpa)
Als erster EU-Regierungschef seit dem Angriff auf die Ukraine reist Karl Nehammer nach Russland. Die Aufregung ist groß, die Erwartungen auch. Doch Österreichs Kanzler zieht ein ernüchtertes Fazit. Und sieht sich dennoch als Vorbild.
Dem ersten Fallstrick war Karl Nehammer ausgewichen: 75 Minuten lang dauerte der Besuch des österreichischen Bundeskanzlers bei Russlands Präsidenten Wladimir Putin in der Residenz Nowo-Ogarjowo bei Moskau, danach gingen die beiden Regierungschef getrennt ihrer Wege. Kein gemeinsames Statement, nicht einmal ein gemeinsames Foto - auf ausdrücklichen Wunsch der Österreicher, verlautet es aus dem Team des Kanzlers.
Es war die größte von vielen Befürchtungen, die Nehammer auf seiner umstrittenen Audienz beim Kriegsherrn begleiteten: Macht sich das kleine Österreich, das sich so gern als "Brückenbauer" betrachtet, zum unfreiwilligen Helfer Moskaus? Dient das erste persönliche Treffen mit einem EU-Regierungschef seit dem Angriff auf die Ukraine nicht einzig und allein der Propaganda des Kremlchefs? Zumindest die Bilder dafür wollte Nehammer nicht liefern.
Zählbares aber, dass musste Nehammer einräumen, konnte er nicht erreichen in dem Gespräch, das er als "direkt, offen und hart" bezeichnete: "Ich hab keinen optimistischen Eindruck, den ich mitnehmen kann", sagte er nach dem Treffen. Und doch ruft er seine Amtskollegen wie Olaf Scholz auf, es ihm gleichzutun, die Telefondiplomatie zu beenden - und das persönliche Gespräch mit Wladimir Putin zu suchen.
Viel mehr Druck als Nehammer vor seiner Reise nach Moskau kann man sich auf diplomatischer Mission kaum auferlegen: Vor gerade einmal fünf Monaten hat der ÖVP-Mann das Amt von Sebastian Kurz' Ersatzmann Alexander Schallenberg übernommen, nun wollte er dem Langzeitherrscher ins Gewissen reden, der in Teilen der Welt als eiskalter Lügner und Kriegsverbrecher gesehen wird. Ein Waffenstillstand, humanitäre Korridore und eine Untersuchung der Gräueltaten in Butscha - diese möglichen Ziele setzte sich Nehammer im Vorfeld, wohl wissend, dass sich Russland in all diesen Punkten zuletzt nicht ansatzweise bewegt hat.
Eine Bitte an Olaf Scholz
"Meine wichtigste Botschaft an Putin war (…), dass dieser Krieg endlich enden muss, denn in einem Krieg gibt es auf beiden Seiten nur Verlierer", teilte Nehammer im Anschluss mit. Seinen Besuch habe er als "Pflicht" empfunden, er habe nichts unversucht lassen wollen, schließlich sei das direkte Gespräch "trotz aller Differenzen" alternativlos. Es sei wichtig gewesen, den russischen Präsidenten mit der Realität des Krieges zu konfrontieren, die Verbrechen an der Zivilbevölkerung direkt anzusprechen, "und ihm dabei in die Augen zu sehen".
In einer Videokonferenz mit Journalisten sagte Nehammer, er habe schon Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz über das Gespräch informiert, und ihn ermuntert, ebenfalls ein Treffen von Angesicht zu Angesicht in Betracht zu ziehen: "Es macht einfach einen Unterschied".
Warum die russische Seite dem Treffen zustimmte, bleibt weiter unklar. Nehammer selbst will die Initiative ergriffen haben, die Spitzen der EU waren offenbar nicht direkt involviert, aber informiert, ebenso der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, den Nehammer erst am Wochenende in Kiew getroffen hatte. Hätte Selenskyi nicht zugestimmt, sagte Nehammer, "dann säße ich nicht hier".
Nehammer wäre kein österreichischer Politiker, hätte er vor dem Abflug nach Moskau nicht das Wort "Brückenbauer" in den Mund genommen, ein Attribut, mit dem sich das kleine Österreich schmückt, gern auch mit Verweis auf die besondere Rolle des Wiener Parketts in der internationalen Diplomatie: Hier tanzte der Wiener Kongress 1814/15, hier trafen sich 1961 Kennedy und Chruschtschow, hier laufen bis heute die Atomverhandlungen mit dem Iran.
Neutral, aber problematisch
Seinen Anspruch stützt Österreich auch auf seine Neutralität - das Land gehört zwar der EU, aber nicht der NATO an. "Militärisch neutral, aber nicht moralisch", unter diesem Motto hat sich Wien im Ukraine-Krieg klar positioniert, und doch gilt Wien innerhalb der EU als unsicherer Kantonist in Sachen Russland. Noch immer konnte Österreich den Verdacht nicht ausräumen, mit einem Veto Sanktionen gegen Oleg Deripaska verhindert zu haben, einen Oligarchen mit Anteilen am Bauriesen Strabag. Während die Strabag Deripaska mittlerweile die Mitbestimmungsrechte entzogen hat, lobbyiert Österreich gemeinsam mit Deutschland gegen ein Gasembargo. Die Abhängigkeit vom russischen Gas ist noch höher als im Nachbarland: 80 Prozent des Gases kommen aus Russland und decken rund 30 Prozent des gesamten Energiebedarfs.
Die Abhängigkeit hat Tradition, Österreich kaufte 1968 als erstes westeuropäisches Land russisches Gas ein. Zur 50-Jahre-Feier des Liefervertrags kam Putin höchstpersönlich nach Wien. Damals setzte sich die ÖVP-FPÖ-Regierung unter Sebastian Kurz für eine schrittweise Aufhebung der EU-Sanktionen ein. Putin selbst freute sich in einem Interview, dass Kurz das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 positiv sehe. Der teilstaatliche Ölkonzern OMV investierte wie auch andere österreichische Industriekonzerne massiv in Russland. Für russische Oligarchen war Österreich ein beliebter Platz für Investitionen und nicht zuletzt Luxusurlaube in den Alpen.
Den skurrilen Höhepunkt der österreichisch-russischen Freundschaft lieferte die damalige Außenministerin Karin Kneissl, die Wladimir Putin zu ihrer Hochzeit im Sommer 2018 in die Steiermark einlud - und nach einem gemeinsamen Tanz vor ihm auf die Knie ging.
Sebastian Kurz nutzte den traditionell guten Draht nach Moskau noch in der Corona-Zeit für einen Tiefschlag gegen Brüssel: Im Streit um die angeblich unfaire Verteilung von Impfstoff verhandelte Österreich plötzlich mit Russland über die Lieferung von Sputnik V. Obwohl Kurz schon Vollzug meldete, kam der Deal nie zustande.
Moskau-Reise als Ablenkungsmanöver?
Einen PR-Stunt à la Kurz wittert nun auch die österreichische Opposition bei der Kanzler-Reise nach Russland. Tatsächlich kämpft Nehammer mit sinkenden Umfragewerten seiner ÖVP und einer peinlichen Posse: Zwei seiner Personenschützer haben unter Alkoholeinfluss einen Autounfall gebaut, was lange unter Verschluss gehalten werden konnte, bis das Innenministerium sogar einräumen musste, dass sich die Beamten in der Wohnung des Kanzlers betrunken hatten - in Anwesenheit der Ehefrau Nehammers.
Das Verhältnis zum Koalitionspartner von den Grünen ist derweil angespannt, gut abzulesen an der Tatsache, dass Vizekanzler Werner Kogler nicht in die Pläne für Nehammers Trip eingeweiht war und sie dementsprechend schmallippig kommentierte: "Vorausgesetzt, die Reise sei mit der EU abgestimmt, könnte es einen Versuch wert sein."
Auch im Ausland sorgt der Alleingang des Kanzlers für einiges Aufsehen. Die "Bild"-Zeitung zitierte einen ungenannten ukrainischen Diplomaten, der von einer "Selbstüberschätzung" Nehammers sprach. Osteuropäische Politiker wie etwa Lettlands Vize-Premier Artis Pabriks zeigten sich verwundert. "Wer kann mir erklären, was Österreichs Kanzler in Moskau will?", schrieb Pabriks auf Twitter.
Wenn er direkte Gespräche zwischen Putin und Selenskyj vermitteln wollte, war Nehammer jedenfalls nicht erfolgreich. Auf eine Andeutung, der ukrainische Präsident sei dafür bereit, habe Putin keine Reaktion gezeigt, sagte Österreichs Kanzler vor Journalisten. Allerdings zeige Putin Zutrauen in die Verhandlungen in der Türkei. Insgesamt stecke der Kremlchef jedoch "tief in der Kriegslogik" fest. Zwar habe Putin auf seine Hoffnung, dass der Krieg bald enden müsse, geantwortet: "Es ist besser, wenn er schnell endet". Das könne aber auch ein schlechtes Zeichen sein - und auf eine brutale Offensive im Osten der Ukraine hindeuten.
Quelle: ntv.de