Zum dritten Mal Neujahr im Krieg Ob wir Ukrainer kriegsmüde sind? Aber ja!
31.12.2024, 13:04 Uhr
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Bei allen Schwierigkeiten ist es schwer vorstellbar, dass Russland den ukrainischen Widerstand bedeutend brechen kann.
(Foto: IMAGO/NurPhoto)
Silvester ist für die meisten von uns Ukrainern das höchste Fest im Jahr. Wieder erleben wir es inmitten des russischen Angriffskriegs. Das Leben in Kiew zehrt an den Nerven, könnte aber noch viel schlimmer sein. Die Gesellschaft kann kaum noch - und steckt dennoch nicht auf.
Die Menschen in der Ukraine begehen zum dritten Mal in Folge den Jahreswechsel, das wichtigste Familienfest, inmitten des Krieges. Für uns in Kiew und allen anderen Regionen fernab der Front bedeutet das vor allem eines: Es hat sich eine Normalität eingestellt, die eigentlich nicht normal ist. Nicht normal sein darf. Die ständigen russischen Luftangriffe sind, vorsichtig formuliert, anstrengend. Dabei sind die Umstände in der ukrainischen Hauptstadt noch milde im Vergleich zu Großstädten wie Charkiw oder Saporischschja, die näher an den umkämpften Gebieten gelegen sind. Anders als in Kiew ist es dort eher Regel als Ausnahme, dass der Luftalarm erst auslöst, wenn etwa eine ballistische Rakete längst eingeschlagen hat. Noch schlimmer ergeht es den Menschen in Städten wie Kramatorsk oder Slowjansk in der hart umkämpften Region Donezk. Das Alltagsleben dort ist ohne jede Übertreibung die Hölle auf Erden.
Dieses Wissen macht das Leben in Kiew dennoch nicht leichter. Die Hauptstadt liegt seit Beginn des Krieges im Fokus der russischen Luftangriffe. Bis zum Sommer dieses Jahres aber folgten Phasen, in denen Kiew jede zweite Nacht angegriffen wurde, Wochen oder Monate relativer Ruhe. Doch damit ist es sei Monaten vorbei. Wenn einmal ein paar Tage nichts geschieht, kein Luftalarm vom Handy gemeldet wird, niemand überlegen muss, ob es Zeit für den Bunker oder Luftschutzkeller ist, geht es gleich wieder von vorne los. Unablässig nimmt Russland mit Raketen und Marschflugkörpern die Energieinfrastruktur unseres Landes unter Beschuss.
Und dann surren wieder die Generatoren
Während der letzten drei Monate gab es kaum eine Nacht, in der Kiew und das übrige Hinterland nicht massiv mit Kampfdrohnen angegriffen wurden. Anfangs waren das noch vor allem vom Iran hergestellte Shahed. Inzwischen werden sie in Russland selbst produziert - und auch weiterentwickelt. Dass Moskau die Produktion zuletzt bedeutend erhöhen konnte, bekommen die Ukrainerinnen und Ukrainer buchstäblich jede Nacht zu spüren.
Deswegen war es in der Nacht auf Sonntag, den 17. November, überhaupt keine Überraschung, als es gleich mehrere längere Luftalarme gab. Die Ukraine erlebte einen der größten russischen Luftangriffe überhaupt seit Kriegsbeginn. Er war eigentlich nur vergleichbar mit dem Beschuss vom 24. Februar 2022, als Putin die groß angelegte Invasion befahl. Wie viele Raketen und Marschflugkörper damals über der Ukraine niedergingen, ist unbekannt. An jenem Novemberwochenende hagelten 120 Raketen und 90 Drohnen auf ukrainische Energieobjekte nieder. Am Tag darauf waren Stromausfälle in der Ukraine wieder Realität. Als ich an jenem Montag durch den historischen Kiewer Stadtteil Podil ging und wieder das laute Brummen der Benzingeneratoren hörte, war für mich klar: Der harte Winter, den so viele befürchtet haben, hat begonnen. Es stehen schwere Monate vor uns.
Mir persönlich fällt es schwer, zu verstehen, dass bald drei volle Kriegsjahre rum sind. Und das, obwohl für mich dieser Krieg eigentlich Ende Februar 2014 begonnen hat, als Russland mit der Annexion der Krim-Halbinsel begann. Ich stamme selbst von der Krim und musste sie im Zuge der russischen Machtübernahme verlassen. Seit dieser Krieg tobt, sind die Menschen in der Ukraine durch unterschiedliche Phasen gegangen. Gut ging es mir und der ukrainischen Bevölkerung nie.
Besonders schwere Monate
Deshalb kann ich die Frage nach der Kriegsmüdigkeit der Ukrainer nicht ernst nehmen. Ich verstehe sie zwar, aber: Kriegsmüde sind wir seit jenem 24. Februar 2022. Und selbst Erfolge wie zum Beispiel die blitzschnelle Befreiung der Region Charkiw im September 2022 hellte vielleicht eineinhalb Tage lang die Stimmung etwas auf. Doch das ständige Leid, das wir so lange schon erleben, überdeckt keine noch so gute Nachricht über Erfolge an der Front.
Dennoch ist wahr: Die Kriegsphase der vergangenen Wochen und Monate zählt zu den besonders schwierigen Momenten für Ukrainerinnen und Ukrainer. Die seit mehr als einem Jahr ununterbrochene, fast niemals nachlassende Offensive der russischen Armee im Donbass hatte so kaum ein Experte für möglich gehalten. Die überraschende Besetzung der russischen Region Kursk durch die ukrainische Armee ließ die Menschen einen Moment hoffnungsvoll aufatmen. Doch dieser Moment ist längst vorbei.
Zum eisigen Winter kommt das Problem der Mobilisierung: Je weniger Freiwillige in den Krieg ziehen, je mehr dort verletzt und getötet werden, desto mehr Männer müssen gegen ihren Willen in die Armee. Das führt zu großen Spannungen in der Gesellschaft. Hinzukommt die Erhöhung der Steuern und Kommunalabgaben. Der Staat ist auf das Geld angewiesen, die Menschen sind aber seit 2022 nicht reicher geworden, im Gegenteil.
Krieg? Die Ukrainer haben gar keine Wahl
So ist zum Ausklang dieses dritten Kriegsjahres Ambivalenz das vorherrschende Gefühl: Die Menschen wissen, dass im Ringen mit Russland und seinen unerschöpflichen Ressourcen kein Weg an der Mobilmachung vorbeiführt. Aber selbst in den Krieg ziehen zu müssen, ist eine mehr als beängstigende Aussicht. Menschen sind in drei gleich große Lager aufgeteilt. Jene, die unbedingt den Krieg beenden wollen und solche, die jedwede Verhandlungen mit Russland ablehnen. Dazwischen stehen die Menschen, die ein Kriegsende wollen, aber nicht um jeden Preis. Ein Waffenstillstand ist demnach eine Frage der Bedingungen. Dabei steht die Frage nach Sicherheitsgarantien nach dem Ende der Kampfhandlungen im Mittelpunkt vieler Überlegungen.
Trotz der komplizierten Lage an allen Fronten ist der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung weiterhin klar und bewusst: Zur Fortsetzung des Widerstandes gegen die russische Invasion gibt es keine Alternative. Es wäre zwar falsch zu behaupten, dass die Zermürbungsstrategie Moskaus sinnlos ist, doch bei allen Schwierigkeiten ist es für mich weiterhin schwer vorstellbar, dass Russland den ukrainischen Widerstand bedeutend brechen kann. Egal, wie lange auch immer etwa die Stromausfälle im laufenden Winter andauern werden.
Quelle: ntv.de