Problem Aiwanger ungelöst Mit 25 Fragen kauft Söder sich Zeit
29.08.2023, 15:53 Uhr Artikel anhören
Ohne ihn würde es schwierig, aber mit ihm womöglich auch: Kurz vor der Landtagswahl stellt sich Markus Söder vor seinen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger.
(Foto: picture alliance / SvenSimon)
Warum hatte Freie-Wähler-Chef Aiwanger als Schüler ein antisemitisches Hetzblatt im Ranzen? Das kann der bayerische Minister auch heute nicht erklären, Zeugen von damals belasten ihn schwer. Ministerpräsident Söder sieht den Ruf Bayerns beschädigt und erhöht den Druck.
25 Antworten auf 25 Fragen - so lautet die Aufforderung von Bayerns Regierungschef Markus Söder an seinen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger. Ob sich der Parteichef der Freien Wähler, die mit der CSU gemeinsam den Freistaat regieren, vor dem Rechner sitzend besser erinnern wird, wie und warum im Jahr 1988 antisemitische Flugblätter in seinen Schulranzen gerieten? Fraglich. Am heutigen Tag, in der Beratung des Koalitionsausschusses, konnte er den Sachverhalt nicht zur Zufriedenheit des Regierungspartners aufklären. "Es blieben und bleiben viele Fragen offen", sagte Söder im Anschluss an die Ausschusssitzung. Aiwangers Aussagen reichten "definitiv nicht aus für eine abschließende Bewertung".
Der Auftrag, 25 Antworten zu geben, erfolgte ohne einen öffentlich vorgegebenen Zeitrahmen. Und damit haben sich die Koalitionspartner womöglich in erster Linie Zeit erkauft. Denn aus dieser vertrackten Gemengelage den richtigen Pfad heraus zu finden, ist nicht trivial. Für Markus Söder gibt es sechs Wochen vor der bayerischen Landtagswahl keinen Weg ohne Risiko.
Das Hetzpapier zieht den Holocaust ins Lächerliche, im Text wirbt es für die Teilnahme an einem "Bundeswettbewerb", der als Preis einen "Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz" auslobt. "Ekelhaft, widerlich", nannte Söder die Hetze, und "übelsten Nazijargon". So, wie das Flugblatt geschrieben sei, "merkt man, dass da auch eine ganz andere Energie dahintersteckt". Es sei keine bloße Jugendsünde.
Doch die Recherchen der "Süddeutschen Zeitung" allein reichen aus Söders Sicht für eine Beurteilung des Falls nicht aus, "die sind bislang nur anonyme Quellen und keine weiteren Belege", sagte er. Der Zeitung liegen die Aussagen mehrerer Personen aus Schülerschaft und Kollegium des Gymnasiums vor, das Aiwanger damals besuchte. Sie bestätigen die Vorwürfe, der damalige Schüler habe die Flugblätter im Ranzen gehabt und sei deshalb vor dem Disziplinarausschuss der Schule gelandet.
Doch damit ein Rausschmiss Aiwangers nötig und auch möglich würde, bräuchte es aus Sicht der CSU wohl Belege dafür, dass er die Hetzschrift nicht nur bei sich trug, sondern auch selbst verfasst hatte.
"Ich glaube, dass Hubert sie wieder eingesammelt hat"
Die "Süddeutsche" recherchierte nicht nur im Umfeld der Schule. Sie legte das maschinengeschriebene Flugblatt von 1988 auch einem Schriftexperten vor und bat um Vergleich mit einer von Hubert Aiwanger verfassten Facharbeit aus dem Jahr 1990. Einschätzung des Fachmanns: Beide Dokumente seien "sehr wahrscheinlich auf ein und derselben Schreibmaschine geschrieben worden".
Eine solche Einschätzung könnte ein schwerwiegendes Indiz sein, wenn sich nicht mittlerweile jemand zu Wort gemeldet hätte, der sich selbst als Verfasser der Flugblätter bezichtigt: Helmut Aiwanger, der ältere Bruder. Er sei sich nicht mehr ganz sicher, sagte Bruder Helmut am Montag der Mediengruppe Bayern. "Aber ich glaube, dass Hubert sie wieder eingesammelt hat."
Es klingt nicht sehr glaubwürdig, aber auszuschließen ist es eben nicht: dass Hubert Aiwanger Hetzblätter im Ranzen trug, die sein Bruder Helmut auf einer zuhause vorhandenen Schreibmaschine getippt hatte, auf der der spätere Minister auch seine Hausarbeiten schrieb. Und dass die Zettel in der Schultasche steckten, weil der jüngere Bruder sie zuvor eingesammelt hatte, "um zu deeskalieren", wie Helmut Aiwanger sich erinnern will. Auch wenn die Erinnerung so vage ist, dass offenbar auch eine andere Version möglich ist.
Die Zwickmühle, in der Markus Söder am Wochenende ungewollt Platz genommen hat, ist beachtlich: Sollte sich der Verdacht, dass sein Wirtschaftsminister in jungen Jahren antisemitischen "Dreck" - wie Söder es nannte - verbreitet hat, weder erhärten noch entkräften lassen, dann kann er mit keiner Reaktion wirklich punkten.
Auch wenn der reine Verdacht nach Söders Aussage bereits "das Ansehen Bayerns" beschädigt und auch die Glaubwürdigkeit des Ministers Aiwanger: Solange keine neuen Beweise vorliegen, "wäre eine Entlassung aus dem Amt eines Staatsministers ein Übermaß", so Söder heute. Den Freien Wählern würde sie die Möglichkeit geben, Aiwanger als einen zu Unrecht bestraften Märtyrer zu stilisieren und damit bei der Landtagswahl noch mehr Unterstützung zu generieren als die schon jetzt beträchtlichen 12 Prozent in den Umfragen.
Steht Söder aber zu Aiwanger und die CSU zu den Freien Wählern, dann müsste sie mit einem beschädigten Koalitionspartner, auf dem dauerhaft ein schwerer Verdacht lastet, ins Rennen gehen.
Die Opposition hat es leichter: Aus der SPD kam bereits die Forderung nach Rücktritt oder Rausschmiss, unabhängig von der Frage, ob Aiwanger jemals wird erklären können, wozu er die Flugblätter in seinem Schulranzen hatte. Und was vorgefallen war, dass die Schulleitung sich überhaupt veranlasst sah, den Besitz der Pamphlete in der Tasche des damals 17-Jährigen festzustellen. Bayerische Gymnasien mögen in den 1980er Jahren zuweilen strenger geführt worden sein als im übrigen Land. Rasterfahndung in Schulranzen wäre dennoch schwer vorstellbar.
Schweigen über Jahrzehnte
Dieser Teil der Geschichte - er fehlt nach dem heutigen Tag weiterhin, obwohl die "Süddeutsche Zeitung" ihre Flugblatt-Enthüllungen auf mehrere Quellen stützt, die damals unterrichteten oder lernten, an der Schule, auf die Aiwanger ging. Der Schüler landete vor einem Disziplinarausschuss, weil man die Notwendigkeit sah, ihn für die Flugblätter zu bestrafen. Aber für was genau? Dafür, dass er Exemplare bei sich im Ranzen trug? Oder auch dafür, dass er sie verfasst und verteilt hatte?
Nach Aussage des Freie-Wähler-Chefs wurde ihm vom Ausschuss das Verfassen eines Referats über die Nazizeit als Strafe aufgebrummt. Eine mild erscheinende Strafe für ein Flugblatt voller widerwärtiger Hetze. Danach: Schweigen über Jahrzehnte, auch als Hubert Aiwanger mit seinen Freien Wählern zum Wirtschaftsminister in der bayerischen Landesregierung aufstieg. Warum damals Schweigen und warum jetzt plötzlich nicht mehr, sechs Wochen vor der Landtagswahl?
Die Erklärung von einem, der für die Flugblatt-Geschichte als anonyme Quelle herhält, ist die Rede Aiwangers auf einer Demonstration in Erding. Im Juni war das, ein Protestzug gegen das Gebäudeenergiegesetz, das viele Menschen in die Sorge vor einem erzwungenen Heizungsaustausch zu hohen Kosten trieb und gegen die Regierung aufbrachte. Ein wenig kommuniziertes und nicht vollständig durchdachtes Gesetzeswerk, von vielen als kritikwürdig erachtet. Doch Hubert Aiwanger stellte sich ans Mikrofon und rief, die "schweigende große Mehrheit" des Landes müsse sich die Demokratie zurückholen.
Für seinen Schachzug, wider besseres Wissen ein problematisches Gesetz mit antidemokratischer Bevormundung gleichzusetzen, wurde Aiwanger damals bejubelt. Für jenen Lehrer aber, der sich später an die "Süddeutsche Zeitung" wandte, um die Flugblatt-Geschichte zu erzählen, war Aiwangers populistische Rede in Erding ein Anlass, nicht mehr daran zu glauben, dass das Flugblatt aus dem Ranzen eine "Jugendsünde" gewesen war.
Gegenüber der Zeitung beschrieb der Lehrer später, wie der heutige Direktor der Schule in seiner Rede zur letzten Abiturfeier über Demokratie sprach und Aiwanger als schlechtes Beispiel heranzog. Daraufhin berichtete er zuerst dem Schulleiter von den Vorfällen vor 35 Jahren und dann der "Süddeutschen". Bestätigt wird seine Darstellung der Flugblatt-Geschichte von anderen Lehrern und Klassenkameraden aus der damaligen Zeit - und inzwischen auch von Hubert Aiwanger.
Aiwanger muss entlastende Stimmen finden
Der hatte nach Darstellung der Zeitung über mehrere Tage verneint, das Flugblatt verfasst zu haben und rechtliche Schritte im Falle einer Veröffentlichung angedroht. Seinen älteren Bruder erwähnte er zu jenem Zeitpunkt nicht, viele weitere Fragen ließ er unbeantwortet. Erst als die Geschichte veröffentlicht wurde, räumte Aiwanger ein, in seinem Ranzen seien Exemplare des Flugblatts gefunden worden. Auch den Disziplinarausschuss und die Strafarbeit bestätigte er.
Ab hier wird es nun wirklich schwierig für den Minister und den Ministerpräsidenten: Aiwanger müsste weitere entlastende Stimmen von damals finden, die seine Geschichte vom Einsammeln des Hetzblatts bestätigen würden. Die Aussage eines Familienmitglieds wiegt als Beweis nicht sonderlich schwer. Finden sich hingegen Zeugen von damals, die bereit wären, eine etwaige Urheberschaft Aiwangers zu bestätigen, dann wäre dieser wohl sein Ministeramt und die CSU ihren Koalitionspartner los. Es bleibt spannend.
Quelle: ntv.de