Lukaschenko unter Druck Putin will, dass sich Belarus opfert
17.02.2023, 12:01 Uhr Artikel anhören
Kreml-Chef Wladimir Putin hat das Narrativ für Belarus' Kriegseintritt schon gesetzt: ein Angriff der Ukraine.
(Foto: dpa)
In der Ukraine wächst die Sorge vor einer neuen Front an der Grenze zu Belarus. Machthaber Lukaschenko hat Mühe, den Kriegseintritt seines Landes abzuwenden - denn Putin dürfte dessen wirtschaftliche Abhängigkeit nutzen, um ihm Material und Männer abzupressen.
Anfang des Jahres berichtet der belarussische Machthaber, Alexander Lukaschenko, von einem Phantomerlebnis: Die ukrainische Regierung habe ihm einen "Nichtangriffspakt" vorgeschlagen, während sie gleichzeitig eine Invasion auf Belarus plane. Wolodymyr Selenskyj dementiert sofort. Doch das Narrativ ist gesetzt - ganz im Sinne des Kreml. In der Ukraine manifestiert sich nun die Sorge, Belarus könne sich tatsächlich auf einen Kriegseintritt vorbereiten. Spekuliert wird darüber seit Monaten. Bisher hat Lukaschenko jedoch immer beteuert, keine eigenen Truppen über die 1000 Kilometer lange Grenze zur Ukraine schicken zu wollen. Doch wie viel ist dieses Versprechen wert?
Die Ukrainer erinnern sich noch sehr gut daran, als Lukaschenko das letzte Mal Berichte über einen bevorstehenden Angriff dementierte - kurz danach begann von belarussischem Boden aus Russlands Invasion auf das Nachbarland. Seither sind aus Belarus nach Schätzungen des regierungskritischen Hajun-Projekts mehr als 600 Raketen auf die Ukraine abgeschossen worden. Viele davon trafen die kritische Infrastruktur des Landes. Etwa 12.000 russische Soldaten sind in Belarus stationiert, frisch mobilisierte Russen werden dort für den Kriegseinsatz ausgebildet, und auch Ausrüstung und Waffen stellt Russlands wichtigster Verbündeter bereitwillig zur Verfügung.
Trotzdem wäre es Kreml-Chef Wladimir Putin nur recht, würde Lukaschenko auch seine eigenen Streitkräfte gegen die Ukraine ins Feld schicken - gerade jetzt, wo sich der Kriegsbeginn zum ersten Mal jährt. Putin braucht Erfolge, doch die eigene Truppenstärke auf belarussischem Boden reicht nicht aus, um eine neue Offensive im Nordwesten des Landes zu starten. Zwar hat Belarus nur rund 45.000 aktive Soldaten, aber immerhin 290.000 Reservisten. Hinzu kommen rund 600 Kampfpanzer, mehr als 230 selbstfahrende Raketenwerfer, 1510 gepanzerte Fahrzeuge, 38 Jagdflugzeuge und reichlich Artillerie. Dennoch ist militärische Stärke das eine, Erfahrung das andere.
Belarussen fehlt es an Erfahrung
Die belarussischen Streitkräfte sind kaum kampferfahren, analysierten die Militärexperten Christian Mölling und András Rácz Ende Dezember in einem Gastbeitrag fürs ZDF. Im Januar 2022 seien belarussische Spezialeinheiten das erste Mal überhaupt an einer Auslandsmission in Kasachstan beteiligt gewesen. Lukaschenko hat demnach das Kommando über die am wenigsten erfahrene Armee in Europa. Wie hilfreich sie für Putin gegen gut ausgebildete und kampferprobte ukrainische Streitkräfte sein könnte, ist unklar. Zugleich würde Lukaschenko womöglich Probleme haben, eine neue Protestwelle im eigenen Land niederzuschlagen, wenn seine Armee in der Ukraine kämpft.
Sein Problem ist, dass er abhängig ist von Putin. Die Sanktionen des Westens machen Belarus seit der blutigen Niederschlagung der Proteste von 2020 schwer zu schaffen, die EU fiel als Abnehmer für belarussischen Kalidünger schon vor Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine aus. Zwar versucht Lukaschenko, in Asien und Afrika neue Handelspartner zu gewinnen, doch die Isolation des Landes vom Westen macht der Wirtschaft immer mehr zu schaffen. Vergangenes Jahr sank das BIP im Vergleich zum Vorjahr um 4,7 Prozent, gleichzeitig stieg die Inflation auf 16,5 Prozent. Das können auch die Gold- und Devisenreserven irgendwann nicht mehr kompensieren.
Lukaschenko hängt am Kreml-Tropf
Putin half schon 2020 mit einem 1,5-Milliarden-Dollar-Kredit, 2021 legte er noch einmal eine halbe Milliarde drauf. Das Land hängt längst am Tropf des Kreml-Chefs - und der erwartet als Gegenleistung militärische Unterstützung für seine "Spezialoperation". Erst im Januar trafen weitere russische Truppen in Belarus ein, angeblich nur für eine gemeinsame Militärübung der Luftstreitkräfte. Offiziell wurde das Manöver am 2. Februar beendet. Doch die Ukraine glaubt, dass die Übung vielmehr die Vorbereitung auf eine neue Offensive im Frühjahr gewesen sein könnte.
Wie beunruhigt Kiew ist, zeigen mehrere Drohnenüberflüge im Grenzgebiet, die von belarussischer Seite registriert wurden. Erst Anfang Februar sei eine ukrainische Aufklärungsdrohne abgeschossen worden, meldete der belarussische Grenzschutz. Mehr als 17.000 ukrainische Soldaten sollen in der Region konzentriert sein - alles, um bei einer erneuten Offensive gewappnet zu sein. Doch Experten halten einen Angriff an dieser Stelle im Frühjahr für unwahrscheinlich, es fehle an Reservisten und Material. Außerdem intensiviert die russische Armee aktuell im Raum Luhansk ihre Aktivitäten.
Nach Einschätzung des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) wäre eine russische Offensive von Belarus aus frühestens im Herbst realistisch. Und selbst dann stünden die Streitkräfte des Kreml vor einer schwierigen Aufgabe. Denn das Gelände in der Region ist sumpfig, Biber sorgen mit ihren Dämmen für großflächige Überflutungen. Es gibt nur wenige Straßen, aber viele kleine Flüsse, die ein Durchkommen erschweren. Die polnische Zeitung "Gazeta Wyborcza" hält es deshalb für wahrscheinlicher, dass die Russen von Belarus aus in Richtung der polnischen Grenze zuschlagen wollen - um westlichen Waffenlieferungen den Weg in die Ukraine abschneiden.
Quelle: ntv.de