Lagebericht zum Krieg "Für eine Winteroffensive fehlt es den Russen an Munition"
07.02.2023, 10:28 Uhr (aktualisiert)
Putin am 23. Dezember beim Besuch einer Rüstungsfabrik (Foto der russischen Staatsagentur Tass).
(Foto: picture alliance/dpa/Russian President Press Office)
Der Historiker und Journalist Nikolay Mitrokhin rechnet nicht damit, dass die russische Armee noch eine Winteroffensive gegen die Ukraine startet. "Ich glaube schon, dass die Russen im Winter eine neue Offensive starten wollten", sagt er im Interview mit ntv.de, "aber sie haben ein ähnliches Problem wie die Ukraine: Sie haben nicht genug Munition." Seit Beginn des russischen Überfalls schreibt Mitrokhin für die Zeitschrift "Osteuropa" Berichte über die militärische Lage in der Ukraine. Er geht davon aus, "dass die russische Armee erst ab Mai oder Anfang Juni in der Lage sein wird, größere Operationen durchzuführen", denn dann sei der Frühling vorbei und die Felder trocken. "Aber eine andere Frage ist, ob die russische Führung das versteht. Vielleicht fangen sie doch schon im Februar mit einer großen Offensive an."
Mitrokhin sieht auch Hinweise darauf, dass Russland infolge der westlichen Sanktionen nicht genug Raketen produzieren kann. China sei kein vollwertiger Ersatz. "Huawei beispielsweise hat sich aus Russland zurückgezogen, um nicht von den USA sanktioniert zu werden."
ntv.de: Vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine konnte man gelegentlich Fernsehbilder sehen, die ukrainische Freiwillige mit Holzgewehren bei militärischen Übungen zeigten. Wie gut war die Ukraine vor einem Jahr auf die Invasion vorbereitet?

Nikolay Mitrokhin ist Historiker und Journalist sowie seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Von 1999 bis 2005 arbeitete Mitrokhin für das russische Menschenrechtszentrum Memorial.
(Foto: privat)
Nikolay Mitrokhin: Die ukrainische Armee war relativ gut vorbereitet. Man darf nicht vergessen, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine schon 2014 angefangen hat. Es kam im Donbass entlang der Kontaktlinie zwar seit 2015 nicht mehr zu größeren Gefechten. Aber Artilleriebeschuss und vereinzelte Kämpfe gab es weiterhin. Die ukrainische Armee ging davon aus, dass ein russischer Angriff wahrscheinlich aus dem Donbass erfolgen würde. Entsprechend sahen die Vorbereitungen aus: Im Donbass wurden massive Befestigungsanlagen gebaut, auch bei militärischen Übungen wurde die Abwehr einer Invasion von Osten aus trainiert.
Ein Einmarsch aus Belarus oder von der Krim aus wurde nicht erwartet?
Nein, obwohl es ja schon im Frühjahr 2021 einen russischen Truppenaufmarsch in Belarus gab. Aber es gab eine Art Plan B: Für den Fall, dass Russland doch von Norden aus angreifen würde, wurden mobile Einheiten gebildet, die den Gegner aus dem Hinterhalt angreifen sollten. Diese Strategie passte gut zur Landschaft: Es gibt einen etwa 80 Kilometer breiten Waldgürtel von den Grenzen der Ukraine zu Belarus und Russland im Norden des Landes, auch mehrere große und kleine Flüsse. Die mobilen Gruppen konnten die Invasoren dort angreifen und sich gleich wieder zurückziehen. Sobald die russischen Truppen die Vororte von Städten wie Tschernihiw, Charkiw oder Kiew erreichten, wurden die mobilen Infanterieeinheiten von Panzern und Artillerie unterstützt. Die Vororte, in denen solche Kämpfe stattfanden, wurden zwar zerstört, aber die Städte konnten auf diese Weise geschützt werden. Und dann gab es noch einen dritten Plan, einen Plan C gewissermaßen.
Wie sah der aus?
Das sind die Freiwilligen mit den Holz-Kalaschnikows, die Sie im Fernsehen gesehen haben. Die gehörten zur Territorialverteidigung der Ukraine, die im Winter vor der russischen Invasion gebildet wurde. Ihnen gehören Freiwillige an, aber vor allem Veteranen des Donbass-Krieges. Die Territorialverteidigung aufzubauen, war eine kluge Idee. Diese Milizen konnten vom Herbst 2021 bis zum Februar 2022 trainieren und stellten nach Beginn der Invasion ein echtes Problem für die russische Armee dar. Denn zum Zeitpunkt des russischen Überfalls hatten die Territorialverteidigungskräfte keine Holz-Kalaschnikows mehr, sondern echte Waffen, auch Javelin, also schultergestützte Panzerabwehrlenkwaffen. Sie griffen in kleinen Gruppen an fast wie Partisanen und konzentrierten sich dabei auf die russischen Versorgungslieferungen. Die russischen Truppen schafften es zwar weit in die Ukraine hinein, aber ihre Nachschubwege konnten sie nicht halten, sodass sie im März Probleme mit Treibstoff, Lebensmitteln und Munition bekamen. Statt bei der lokalen Bevölkerung auf Unterstützung zu stoßen, wie die russische Armee offenbar gehofft hatte, wurde sie aktiv bekämpft.
Wie lange hätte die Ukraine ohne westliche Waffenlieferungen durchgehalten?
Das ist schwer zu sagen. Als lokale Sicherheitsdienste im Sommer die Aktivitäten des Chefs des wichtigsten ukrainischen Panzerherstellers untersuchten, fanden sie in einem Lager in Charkiw 60 Panzermotoren. In Saporischschja kam bei anderen Ermittlungen im Herbst heraus, dass der größte Hersteller von Hubschrauber-Triebwerken der Ukraine noch nach Beginn der Invasion Motoren an Russland geliefert hatte. Als die Russen den Flughafen Hostomel in der Nähe von Kiew besetzten, fanden sie dort drei oder vier moderne ukrainische Panzer, die in der Nähe des Flughafens nicht eingesetzt worden waren, darunter das neueste Exportmodell. Nachdem sie die Region Cherson von der Krim aus angegriffen hatten, eroberten sie ein riesiges Lager mit Waffen und Ausrüstung, das von den sich zurückziehenden Truppen verlassen worden war. Was ich damit sagen will: Wir wissen nicht genau, über welche Bestände die Ukraine vor dem Krieg verfügt hat. Übrigens sehe ich mit Blick auf Panzer ein gravierendes Versäumnis aufseiten der Ukraine.
Welches?
Vor dem Krieg gab es in der Ukraine vier Fabriken zur Produktion von Panzern, in Charkiw, Kiew, Schytomyr und Lwiw, außerdem eine ganze Reihe von Reparaturwerken. Trotzdem gab es keine massenhafte Produktion von Panzern und gepanzerten Fahrzeugen. Lediglich Altbestände wurden modernisiert. Um auf Ihre Ausgangsfrage zurückzukommen: Die westlichen Waffen sind sehr wichtig für die Ukraine. Aber die Ukraine hat noch immer relativ gute Möglichkeiten, mit eigenen Beständen zu arbeiten. Ein Beispiel: In Balaklija im ostukrainischen Gebiet Charkiw fiel den Russen eines der größten Munitionsdepots der ehemaligen Sowjetunion in die Hände. Über vier oder fünf Monate nutzten sie diese Bestände während der Kämpfe um Slowjansk. Und als Balaklija im September befreit wurde, war dort immer noch genug Munition vorhanden, dass sich jetzt die Ukrainer daraus bedienen konnten.
Es heißt häufig, dass der Ukraine die Munition auszugehen droht. Stimmt das nicht?
Das kommt auf die Art von Munition an. Von bestimmten Munitionssorten hat die Ukraine genug, bei anderen gab es schon vor dem Krieg einen Mangel, der eigentlich hätte behoben werden sollen. Der staatliche ukrainische Rüstungskonzern Ukroboronprom ist derzeit dabei, eine Produktionsstätte für Artilleriemunition sowjetischen Typs außerhalb der Ukraine aufzubauen, in einem osteuropäischen NATO-Staat. Das ist aus meiner Sicht die richtige Taktik. Leider gibt es nicht viele solcher Initiativen.
Wäre es nicht sinnvoller, dass die Ukraine auf westliche Systeme umsteigt?
Westliche Systeme braucht die Ukraine auch. Die ukrainische Armee hat zwei zentrale Probleme. Eines ist die Abwehr feindlicher Raketen. Hier kann die NATO der Ukraine helfen, denn die neuen russischen Raketen können nur von modernen Systemen abgefangen werden, etwa vom deutschen IRIS-T-System oder dem amerikanischen Luftabwehrsystem Patriot. Über das zweite große Defizit haben wir schon gesprochen: Die ukrainische Armee hat nicht genug Munition für ihre sowjetischen Artilleriesysteme. In Rumänien und Bulgarien stehen zwar noch Anlagen, die solche Granaten herstellen, aber die Mengen reichen nicht aus.
Ein weiteres Problem ist die langfristige Perspektive. Man kann es so sagen: Die Ukraine hat genug Munition, um sich zu verteidigen, aber nicht genug, um das von Russland okkupierte Gebiet zurückzuerobern. Für die Offensiven, die dafür nötig wären, fehlt nicht nur Munition, auch Panzer, Kampfflugzeuge und Hubschrauber. Dazu kommt, dass die ukrainischen Armee trotz des Donbass-Krieges kaum entsprechende Erfahrungen hat. Offensive Operationen in dieser Größenordnung hat sie bislang noch nicht durchgeführt. Schwierig würde es besonders im Osten, wo es viele Städte gibt. Der Süden der Ukraine ist eher ein Steppengebiet, da gibt es auch weniger Siedlungen. Dort sehe ich bessere Möglichkeiten für eine ukrainische Offensive als im Donbass.
Was ist mit der Krim?
Das hängt von den Erfolgen der Ukraine im Süden ab. Wenn die Ukraine das Ufer des Asowschen Meeres befreien kann, dann kann sie die Krim-Brücke über die Straße von Kertsch und damit die zentrale Versorgungslinie der Krim endgültig zerstören. Denn bislang wurde diese Brücke nur beschädigt. Auch die Häfen der Krim würden dann in Reichweite der sehr modernen ukrainischen Seedrohnen kommen. Damit greift die Ukraine schon jetzt russische Schiffe im Hafen von Sewastopol an. Wenn die Ukraine die Region um Mariupol befreien kann, dann ist die Krim aus russischer Sicht in realer Gefahr.
Sie schreiben in Ihrem jüngsten Lagebericht für die Zeitschrift "Osteuropa", Russland habe die geplante Winteroffensive auf Februar verschieben müssen, "wenn sie denn überhaupt noch stattfindet". Warum haben die Russen bislang keine Winteroffensive gestartet?
Ich glaube schon, dass die Russen im Winter eine neue Offensive starten wollten, aber sie haben ein ähnliches Problem wie die Ukraine: Sie haben nicht genug Munition. Und nicht nur das, es fehlt ihnen auch an Ausrüstung. In einem Depot in Sibirien, in dem anderthalb Millionen Winter-Uniformen lagern sollten, fand sich Anfang Oktober gar nichts mehr. Der gesamte Bestand war gestohlen worden. Das ist typisch dafür, wie die Versorgung und Ausstattung der russischen Armee funktioniert. Ja, es kursieren Zahlen über Tausende Panzer in russischen Beständen. Aber in der Praxis können die meisten davon nicht bewegt werden. In Moskau denkt man zwar, dass das alles repariert und eingesetzt werden kann. Aber so einfach ist das nicht.
Kann Russland wenigstens den Vorteil ausspielen, dass es mehr Soldaten zur Verfügung hat?
Die schlechte Versorgung schränkt auch die Verwendung der neu mobilisierten Kräfte stark ein. Es gibt nicht genug Ausrüstung, Verpflegung und Material für so viele Menschen. Putin und Ex-Präsident Medwedew, der jetzt eine Regierungskommission für die Munitions- und Waffenproduktion leitet, besuchen seit drei Monaten fast wöchentlich Rüstungsfabriken. Sie sagen den Direktoren dann immer, dass die nächste Lieferung Ende Februar fertig sein muss. Aber Ende Februar fängt in der Ukraine schon bald der Frühling an. Dann versinken Panzer und auch schwere LKWs abseits der Straßen im Matsch - das haben wir im vergangenen Jahr schon gesehen. Deshalb gehe ich davon aus, dass die russische Armee erst ab Mai oder Anfang Juni in der Lage sein wird, größere Operationen durchzuführen.
Warum ab Mai?
Dann ist der Frühling vorbei und die Felder sind trocken. Aber eine andere Frage ist, ob die russische Führung das versteht. Vielleicht fangen sie doch schon im Februar mit einer großen Offensive an.
Werden die Kampfpanzer aus dem Westen bis Mai in der Ukraine angekommen sein?
Soweit ich weiß, wird das frühestens im Mai oder Juni der Fall sein. Aktuell sehe ich übrigens keinen Mangel an Panzern. Die Ukraine hat im Gebiet Charkiw rund 200 bis 300 russische Panzer erobert. Aus Polen hat die Ukraine 120 Panzer sowjetischer Bauart bekommen. Wo diese Panzer jetzt sind, ist nicht bekannt, aber ich schätze, dass die Ukraine jetzt 400, vielleicht 500 aktive Panzer in Reserve hat. Das ist eigentlich eine gute Reserve. Russland hat rund 200 Panzer im Frontabschnitt bei Swatowe im Nordosten der Region Luhansk, außerdem 100 bis 200 Panzer in der Region Saporischschja. Insofern steht die Ukraine nicht schlecht da, um einen Angriff der Russen abzuwehren. Der ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschnyj hat im Dezember dem "Economist" gesagt, dass er 300 Kampfpanzer, 600 bis 700 Schützenpanzer und 500 Haubitzen brauche, um die russischen Truppen auf die Positionen vor dem Einmarsch am 24. Februar zurückzudrängen. Ich vermute, dass sie eine große Panzerdivision aufstellen wollen, um im Sommer in Saporischschja im Süden anzugreifen.
Sie haben in Ihrem Lagebericht auch darauf hingewiesen, dass Russland weniger Raketen einsetzt als in den Monaten zuvor, nur 28 pro Angriffswelle statt 100. Gehen Russland die Raketen aus?
Ich denke, es ist ein Hinweis darauf, dass Russland nicht genug Raketen hat und nicht genug produzieren kann. Medwedew hat mal einen Betrieb besucht, wo Mittelstreckenraketen vom Typ Kalibr hergestellt werden. Man konnte auf den Fernsehbildern sehen, dass dort viele Raketenkörper standen, aber keine fertigen Raketen. Ich nehme an, dass ihnen die Elektronik für die Raketen fehlt, vor allem für die Kameraoptik. Dafür hat Russland immer Technologie aus dem Westen verwendet. Wegen der Sanktionen ist die nun nicht mehr verfügbar. Möglicherweise gibt es noch keine Alternativen, denn auch China ist da kein vollständiger Ersatz. Huawei beispielsweise hat sich aus Russland zurückgezogen, um nicht von den USA sanktioniert zu werden.
Am Donnerstag hat Putin bei einer Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag des Sieges der sowjetischen Armee in der Schlacht von Stalingrad gesagt, Russland werde "wieder" von deutschen Panzern bedroht. Glaubt die russische Öffentlichkeit wirklich, dass Russland bedroht ist und nicht nur die russische Armee in der Ukraine, einem fremden Land?
Ein Teil der russischen Bevölkerung ist stark antiwestlich eingestellt, bei denen kommt es an, wenn der Krieg gegen die Ukraine mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Kampf gegen den Faschismus gleichgesetzt wird. Aber das ist nur ein Teil. Die Deutsche Welle hat neulich eine Straßenumfrage in Moskau gemacht, was die Menschen über die "Spezialoperation" in der Ukraine denken. Einige der acht Befragten fanden es gut, dass die Ukraine mit deutschen Panzern unterstützt wird.
Warum?
Damit der Krieg so schnell wie möglich beendet wird.
Putin hat in Wolgograd wieder einmal darauf hingewiesen, dass Russland Atomwaffen einsetzen könnte: "Wir haben etwas, womit wir antworten. Und mit der Anwendung von Panzertechnik ist die Sache nicht erledigt. Das sollte jeder verstehen." Wie ernst muss man solche Drohungen nehmen?
Das war nicht das erste Mal, Putin hat schon häufiger mit einer atomaren Perspektive gedroht. Ich weiß nicht, ob Putin verrückt genug ist, das ernst zu meinen. Einerseits sprechen Propagandisten im russischen Fernsehen wie Margarita Simonjan oder Wladimir Solowjow oder auch Medwedew über Atomwaffen, als wäre es ganz normal, sie einzusetzen. Andererseits habe ich beim russischen Militär keinen Enthusiasmus in dieser Frage wahrgenommen. Deshalb denke ich, dass es eher Propaganda und psychologische Kriegsführung ist. Wenn Putin Atomwaffen einsetzen will, dann in der Ukraine.
Mit Nikolay Mitrokhin sprach Hubertus Volmer
(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 05. Februar 2023 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de