
Ein Bild aus Lwiw. In der dortigen Jugend- und Kinderbibliothek knüpfen Frauen Tarnnetze für die Armee.
(Foto: IMAGO/imagebroker)
Angelina* lebt mit ihren Eltern in der Stadt Krywyj Rih im Südosten der Ukraine. Sie erzählt von ihrem Alltag und ihren Ängsten. Und dem Vater, der an der Front im Osten kämpft. "Der Krieg hat alles verändert, trotzdem geht das Leben bei uns weiter", sagt sie.
Früher habe ich gern Kriegsromane gelesen, aber jetzt spiele ich selbst in einem solchen Roman und alles ist echt. Ich bin 21, mein Land befindet sich im Krieg. Meine Eltern sind beide beim Militär, ich habe einen jüngeren Bruder und eine jüngere Schwester.
Vor dem Krieg hatte ich ein normales Leben. An Wochenenden habe ich mich mit Freunden getroffen - was man halt so macht. Wir leben in der Stadt Krywyj Rih im Südosten der Ukraine, von hier kommt auch Präsident Selenskyj. Kurz vor der Invasion habe ich mein Studium beendet und angefangen, an einer Schule zu arbeiten. Ich bin Englischlehrerin, ich unterrichte Grundschulkinder, die Arbeit mit Kindern macht mir viel Spaß.
Wegen des Kriegs findet der Unterricht online statt. An den Nachmittagen gehe ich mit meiner Mutter in den örtlichen Kindergarten, wo wir Tarnnetze für unsere Armee knüpfen oder Lebensmittel und andere Dinge einpacken, um sie den Soldaten zu schicken.
Man gewöhnt sich an Dinge, die eigentlich schrecklich sind. Zum Beispiel an die Sirenen. Warnungen vor russischen Luftangriffen sind fast schon alltäglich geworden. Zu Beginn des Krieges hatte ich jedes Mal Panik und wusste nicht, wohin ich laufen sollte. Wenn es jetzt Luftalarm gibt, gehe ich einfach mit meinem Bruder und meiner Schwester in den Keller.
"Mein Vater überlebte wie durch ein Wunder"
Auch in der Nähe von Krywyj Rih wurde gekämpft, wir konnten das bis in die Stadt hören. Das war beängstigend. Das Schwierigste für mich war, dass immer erst am Abend Nachrichten über die Kämpfe kamen, ausgerechnet am Abend, wenn es dunkel wird und alles noch schrecklicher wird. Nachts ist es besonders gruselig. Oft weiß man nicht, was los ist, wenn man Explosionen hört. Das löst eine schreckliche Panik aus. Ich suche dann immer nach Neuigkeiten, rufe Freunde in anderen Stadtteilen an und frage, ob sie etwas gehört haben.
Mittlerweile hat unser Militär die russischen Truppen aus der Region Dnipropetrowsk vertrieben, in der Krywyj Rih liegt. Aber auch danach hörten wir noch Detonationen. In der Nacht vom 1. auf den 2. April rief mich eine Freundin an, sie hatte große Angst, weil sie Explosionen hörte, die so stark waren, dass ihr Haus bebte. Wir wussten nicht, was los war. Später erfuhren wir, dass unsere Stadt von Smertsch-Raketenwerfern beschossen worden war, die eine Reichweite von 100 bis 120 Kilometern haben. Die Granaten trafen eine Tankstelle und Wohnhäuser, etwa zehn Gebäude wurden zerstört. Glücklicherweise gab es keine Toten. Wir konnten die ganze Nacht nicht schlafen.
Wir sind sehr stolz auf unsere Armee, aber auch besorgt. Manche Soldaten ziehen ohne kugelsichere Westen in den Kampf, weil es nicht genug davon gibt. Für mich sind unsere Verteidiger Helden. Mein Vater ist jetzt auch Soldat, er befindet sich irgendwo zwischen Donezk und Luhansk. Wir können manchmal mit ihm telefonieren, aber meist wissen wir nicht, wo er ist und wie es ihm geht. Er darf uns aus Sicherheitsgründen auch nichts erzählen. Gleich am ersten Tag wurde sein Panzer getroffen, er überlebte wie durch ein Wunder.
Er war verletzt und musste operiert werden. Obwohl seine Wunden noch offen waren, kehrte er an die Front zurück. Er ist Kommandant, die Soldaten brauchen ihn. Jetzt ist er wieder ganz vorne, wir alle spüren, wie schwer es ihm fällt. Gestern hat er am Telefon einen Satz gesagt, den ich nie vergessen werde: "Ich sehe, wie Menschen hier ihr Leben opfern, um andere zu retten." Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas einmal von meinem Vater hören würde.
Natürlich haben wir große Angst um ihn, aber wir sind auch sehr stolz auf ihn. Meine Schwester bringt ihren Stolz besonders süß zum Ausdruck. Jedes Mal, wenn sie einen Mann in Militäruniform trifft, sagt sie: "Unser Vater beschützt uns auch!"
"Ich habe Angst um alle"
Meine Mutter arbeitet normalerweise als Krankenschwester im Kindergarten. Jetzt ist sie bei der Armee, sie ist für die Erstversorgung von Verletzten des Bataillons in Krywyj Rih zuständig. Zu ihren Aufgaben gehört es, verletzten Soldaten Erste Hilfe zu leisten. Als hier noch gekämpft wurde, hat sie die Verletzten notversorgt und dann ins Krankenhaus geschickt. Sie hat während des Krieges mehrere Erste-Hilfe-Kurse absolviert und mir erklärt, wie man Blutungen stoppt und vieles mehr. Um meine Mutter mache ich mir auch große Sorgen: Als Militärkrankenschwester ist sie natürlich immer in der Nähe von Soldaten, da ist sie in besonderer Gefahr.
Der Krieg hat alles verändert, trotzdem geht das Leben bei uns weiter. Im Moment ist die Situation in Krywyj Rih relativ ruhig. Ich verbringe jeden Tag mehrere Stunden damit, Haus und Garten für den Frühling vorzubereiten. Dann vergesse ich, dass in meinem Land Krieg herrscht. Aber die Angst kommt immer wieder zurück. Ich habe Angst um alle, um meinen Vater, meine Mutter, meinen Bruder, meine Schwester, Freunde, Verwandte aus Charkiw und der Region Sumy. Es ist ein schreckliches Gefühl, weil ich es nicht aufhalten kann und mich hilflos fühle. Auch meine Geschwister haben Angst. Mein Bruder ist 12, ein Teenager, er zeigt nicht viel von seinen Emotionen, aber auch er liest die Nachrichten. Meine Schwester ist 6, sie versteht nicht wirklich, was los ist. Wir versuchen, nicht so viel über den Krieg zu sprechen, wenn sie dabei ist, aber sie hat oft schreckliche Träume.
In der Region Sumy lebt meine Großmutter, in Оchtyrka. Die Stadt ist gerade zur Heldenstadt erklärt worden. Die russischen Truppen haben lange versucht, Оchtyrka zu erobern, und als das nicht geklappt hat, haben sie sie mit Raketen angegriffen. Ich habe dort früher jeden Sommer verbracht, ich kenne die Stadt sehr gut. Jetzt gibt es Оchtyrka nicht mehr, die ganze Stadt ist zerstört, viele Menschen sind gestorben.
Wie ich über russland denke? Das wird für den Rest meines Lebens ein feindliches Land sein. Wenn ich "russland" schreibe, dann ist das kein Tippfehler. In der Ukraine schreiben wir russland nicht mehr groß. Die russen sind grausam, sie töten nicht nur unsere Soldaten, sondern auch Zivilisten und Kinder. Und dann behauptet ihre Propaganda, dass die Ukrainer ihre eigenen Städte bombardiert hätten und dass die russischen Truppen uns retten müssten. Dieser Irrsinn bringt mich zum Schreien. In den ersten Kriegstagen dachte ich noch, dass die Menschen in russland anfangen würden, gegen die Regierung zu rebellieren. Aber Umfragen zeigen, dass die meisten russen für den Krieg sind. Ich glaube, sie sind schlimmer als Tiere, sie sind Mörder, Plünderer und Vergewaltiger.
*) Aus Sicherheitsgründen haben wir den Namen geändert.
(Dieser Artikel wurde am Samstag, 09. April 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de