Politik

Analyst Igor Danchenko "Russland umgeht Sanktionen mit Geister-Tankern"

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Ein Flüssiggastanker in Prigorodnoje auf der russischen Insel Sachalin nördlich von Japan.

(Foto: picture alliance/dpa/TASS)

Im Interview mit ntv.de spricht der russische Wirtschafts- und Verteidigungs-Analyst Igor Danchenko über die Frage, ob westliche Sanktionen gegen Russland überhaupt ihre Wirkung zeigen. Er erwartet, dass der Krieg in der Ukraine als eingefrorener Konflikt endet. Allerdings werde es auch nach einem Waffenstillstand einen neuen Eisernen Vorhang zwischen Russland und dem Westen geben.

ntv.de: Über ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und entsprechenden westlichen Sanktionen gegen Russland: Wie schlägt sich die russische Wirtschaft wirklich?

Igor Danchenko: Einerseits geht es der russischen Wirtschaft besser als westliche politische Entscheidungsträger erwartet hatten. Wir wissen auch, dass die Auswirkungen der Sanktionen gegen Russland bis jetzt eher marginal waren und Russland diese auch nutzt, um sich unabhängiger zu machen. Andererseits werden die langfristigen Effekte zwangsläufig negativere Auswirkungen für Russland haben.

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Igor Danchenko ist in Russland geboren und lebt seit mehreren Jahren in den USA, wo er unter anderem als Analyst für die Denkfabrik Brookings Institution arbeitete. Seine Spezialgebiete sind Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Zwischen 2017 und 2020 galt Danchenko als Informant für das FBI in Fragen der nationalen Sicherheit.

(Foto: privat)

Könnte sich Russland wirtschaftlich komplett unabhängig machen vom Westen?

Lassen Sie uns für einen Moment annehmen, dass Russland in der Lage ist, westlichen Einfluss abzuschütteln, und wirtschaftliche oder soziale Investitionsprogramme auflegen kann - viele übrigens noch aus Sowjet-Zeiten. Selbst wenn das passieren würde, dann wären die russischen Mittel immer noch limitiert. Russland hat seit Jahrzehnten um ausländische Investitionen und den Zugang zu westlicher Technologie gebuhlt. Mittlerweile wird das (in Russland) zwar so dargestellt, als ob der Westen Russland ausgenutzt hätte, aber letztlich ist Russland abhängig von Investitionen aus dem Ausland. Und da hat Wladimir Putin sich verkalkuliert: Diese Investments aus dem Westen sind nicht ersetzt worden durch Investitionen aus anderen Ländern.

Länder wie China?

China, der Mittlere Osten, gewisse afrikanische Staaten. Diese Märkte haben ihre Beschränkungen, deswegen stehen Russland auch da Probleme bevor. Aber man muss sagen: Einen Schock für die russische Wirtschaft, wie ihn viele erwartet hatten, den gab es nicht. Zwar sind die Euro-Dollar-Kurse in der ersten Woche nach Beginn der Invasion in die Höhe geschossen, allerdings konnten sie bereits im März 2022 durch die Intervention der russischen Zentralbank stabilisiert werden und sind seitdem mehr oder weniger stabil.

Wie gut funktionieren die westlichen Sanktionen gegen Russland? Haben sie das Potenzial, die russische Wirtschaft auszutrocknen und damit auch Einfluss auf das Kriegsgeschehen zu nehmen?

Sanktionen haben in den vergangenen Jahren nicht gut funktioniert, das war schon nach der Annexion der Krim der Fall. Warum sollten sie das also wie durch ein Wunder über Nacht tun? Aber um es klar zu sagen: Die russische Wirtschaft wird durch Sanktionen stark beeinträchtigt und ebenso durch Putins Kriegsanstrengungen. Der militärisch-industrielle Bereich, also die Massenproduktion von Waffen und Munition, führt zu einer Erschöpfung der Ressourcen. Die russische Wirtschaft überlebt. So würde ich das sagen.

Der Grad der europäischen Sanktionen ist bereits extrem. Da geht also nicht so viel mehr. Ich glaube nicht, dass der Westen in der Lage sein wird, die russische Wirtschaft trockenzulegen. Russland wird sich anderen Märkten zuwenden, was es bereits offensiv getan hat. Ich würde denen zustimmen, die sagen, dass Europa sein Sanktionsregime ausgereizt hat. Ich sage nicht, dass man nicht kreativ werden kann oder sollte, aber ernsthaft: Sanktionen gegen Leute wie die Mutter von Alina Kabajewa, das ist ein Witz. [Alina Kabajewa gilt als Geliebte Putins.]

Schauen wir auf Energiepreise: Stehen Ländern wie Deutschland im kommenden Winter erneut hohe Kosten bevor?

Gut möglich. Es handelt sich ja hier um Marktpreise und die OPEC (Organisation erdölexportierender Länder) greift in den Markt ein. Der Westen konnte bis jetzt noch keine wirkliche Antwort auf die Herausforderungen durch die OPEC geben. Es gibt übrigens auch die GECF, das Forum Gas exportierender Länder, welches schon seit einem Jahrzehnt im Hintergrund lauert. Was würde passieren, wenn Russland oder ein anderes Land so eine Organisation wieder zum Leben erweckt? Es gibt hier also viel Potenzial für Dynamik. Energie wird für Deutschland teurer sein in den nächsten Jahren - im kommenden Winter ganz sicher.

Auf der anderen Seite sehen wir, dass die Märkte bereits korrigieren. Wenn Öl und Gas nicht mehr direkt aus Russland kommen, dann eben in Form von Flüssiggas (LNG) über ein drittes Land. Das passiert bereits. Sanktionen werden umgangen und Ölprodukte erreichen Europa über Indien, die wiederum russisches Öl beinhalten. Weil die Russen die Sanktionen umgehen müssen, haben sie eine ganze Flotte an "Geister-Tankern" etabliert. Sie müssen Rohöl von Tanker zu Tanker transportieren, mischen es mit anderen Ölsorten und verdecken somit einen Teil ihrer Energieexporte. Drittstaaten wie Indien raffinieren es und exportieren Ölprodukte. So eine Umgehung von Sanktionen ist schwer zu überwachen. Allerdings schrumpft all dieser Aufwand Russlands Gewinnspannen.

Wie könnte man diese Form der Umgehung von Sanktionen kontrollieren?

Wenn der Westen in der Lage wäre, China und Indien zu überzeugen, dass sie bei den Sanktionen gegen Russland mitmachen, dann hätte das natürlich ein größeres Gewicht. Aber so justiert sich der Markt einfach neu. Das heißt, dass Deutschland letztlich die gleiche Mischung an Öl und Gas bekommen wird, wie in der Vergangenheit. Natürlich nicht direkt und es wird auch teurer sein, aber ironischerweise wird ein Teil davon immer noch aus Russland kommen.

Außerdem werden wir sehen, was mit den russischen "Arctic LNG"-Projekten passieren wird. Russland hat seine eigene patentierte Verflüssigungs-Technologie namens "Arctic Cascade", die wiederum von der Firma Novatek getestet wird. Sollten Russlands LNG-Projekte erfolgreich sein, trotz Sanktionen und Restriktionen, dann wäre auf einmal mehr russisches LNG auf dem Weltmarkt verfügbar, was wiederum den Druck in Nordeuropa oder Nordostasien reduzieren könnte. Oder, sollte mehr LNG aus der russischen Arktis für Indien und China zur Verfügung gestellt werden, dann könnte wiederum preiswerteres nordamerikanisches LNG für Deutschland und seine Nachbarn übrig bleiben.

Welche weiteren Auswirkungen hat dieser Krieg auf die Energiemärkte?

Die Energiemärkte erreichen gerade eine neue Form des Gleichgewichts. Bis der Krieg vorüber ist, wird die Welt sich verändert haben. Ich sehe noch kein Ende des Kriegs, aber ich sehe dieses neue Equilibrium, das sich gerade austariert. Die Welt hat also schon reagiert und je stärker sich die Welt anpasst, desto weniger wird sie Putins Aggression beachten.

Wann und wie wird dieser Krieg Ihrer Meinung nach enden?

Ich hoffe, dass dieser Krieg 2023 enden wird. Allerdings sind die Parteien, die in diesem Krieg involviert sind, bereit, sehr weit zu gehen, um ihren politischen Willen durchzusetzen. Leider ist dieser Krieg seit dem Sommer 2022 zu einer gesichtswahrenden Übung geworden. Jeder ist so festgefahren in seinen Positionen, dass niemand dazu bereit ist, einen Friedensplan voranzubringen.

Es gibt leider auch kein Kaliber eines Richard Holbrooke zum Beispiel [Holbrooke war der Architekt des Dayton-Abkommens, mit dem der Bosnienkrieg beigelegt wurde]. Dabei braucht es manchmal nur einen Richard Holbrooke, der sich durch so einen Konflikt durchschlägt und zumindest einen "schlechten Frieden" etabliert, an den sich alle Parteien gewöhnen können. Ich persönlich bedaure es, dass es dafür nicht den politischen Willen gibt.

Das heißt wiederum, dass der Krieg auf dem Schlachtfeld entschieden wird. Die Ukraine wird vielleicht einen Teil ihres Territoriums zurückerobern können und Russland wird versuchen, mehr ukrainisches Gebiet einzunehmen oder zumindest seine jetzige Stellung zu zementieren. Sollte ein Waffenstillstand am Horizont erscheinen, dann könnte sich im kommenden Jahrzehnt ein neuer Eiserner Vorhang oder Zaun etablieren. Die USA und die EU sollten aber trotzdem zum jetzigen Zeitpunkt nicht vor der Ernennung von Sonderbeauftragten zurückschrecken.

Meinen Sie mit Eisernem Vorhang eine physische Mauer?

Nein, ich habe metaphorisch gesprochen. Aber es könnte schon der koreanischen demilitarisierten Zone oder der Berliner Mauer ähneln.

Also wird der Konflikt irgendwann eingefroren?

Letztlich ja. Und dann könnte es eine Art demilitarisierte Grauzone geben, womöglich entlang der Grenzen von Luhansk und Donezk und in der Krim-Region.

Wenn wir zum Schluss noch auf den Westen schauen und auch auf Deutschland: Was ist aus Ihrer Sicht derzeit die größte Bedrohung für diesen Teil der Welt?

Ich denke, dass es zwei gibt: die übermäßige Polarisierung der Gesellschaft und natürlich Korruption.

Korruption?

Einige westliche Gesellschaften haben ihre politische Mitte verloren. Einige haben auch ihre wirtschaftliche Mittelschicht verloren. Und viele Menschen sind einfach gleichgültig geworden und schauen bewusst weg oder hängen sich an irgendwelche Verschwörungstheorien. Polarisierte Gesellschaften halten weniger zusammen und sind anfälliger für ernsthafte Störungen von innerhalb, aber auch von außerhalb, zum Beispiel von staatlichen Akteuren wie China und Russland. Das ist immer eine Bedrohung. Und auch in dem Kontext sollte man ein besonderes Augenmerk auf Korruption haben.

Mit Igor Danchenko sprach Philipp Sandmann.

Eine englische Version des Interviews finden Sie hier.

Quelle: ntv.de

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