"Sendet das falsche Signal" SPD und Grüne kritisieren Merz-Auftritt bei Erdogan scharf
30.10.2025, 19:22 Uhr Artikel anhören
Der Antrittsbesuch von Kanzler Merz bei Präsident Erdogan in Ankara ist auf Harmonie ausgelegt. Der Kanzler will die Partnerschaft vertiefen und äußert sich zur innenpolitischen Lage in der Türkei zurückhaltend. In den Reihen der Grünen und des Koalitionspartners SPD rumort es.
Außenpolitiker von SPD und Grünen haben den Auftritt von Bundeskanzler Friedrich Merz beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan kritisiert. "Wer in Ankara über europäische Perspektiven spricht, darf über die menschenrechtliche Realität im Land nicht schweigen", sagte der Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, Serdar Yüksel, dem "Focus". "Schweigen aus diplomatischem Kalkül mag bequem sein, aber es ist kein Beitrag zu einer echten europäischen Perspektive für die Türkei", so der SPD-Politiker.
Weiter sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete: "Wenn CDU-Chef Friedrich Merz die Türkei besucht, Annäherung an die EU verspricht, aber kein Wort über politische Gefangene, über eingeschränkte Pressefreiheit oder über demokratische Oppositionsfiguren wie Ekrem Imamoglu verliert, dann sendet das das falsche Signal." Europa sei mehr als ein sicherheitspolitisches oder wirtschaftliches Projekt, sagte Yüksel.
Die europäischen Werte "müssen auch im Gespräch mit schwierigen Partnern verteidigt werden", sagte der Sozialdemokrat. Demokratische Kräfte, die derzeit in der Türkei unter Druck stünden, erwarteten von Deutschland und Europa eine "klare Haltung".
Auch der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen, Max Lucks, kritisierte Merz deutlich. "Entweder ignoriert Merz die gesamte Realität in der Türkei, oder er genießt es, sich eigenmächtig einen Maulkorb aufzusetzen", sagte der Grünen-Abgeordnete, der auch stellvertretender Vorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe ist, dem "Focus". "Merz sagt nichts dazu, dass Präsident Erdogan seit Jahren mit seiner politisierten Justiz gegen die eigene demokratische Opposition vorgeht."
Merz für "strategischen Dialog"
Der Kanzler sprach sich dafür aus, einen "strategischen Dialog" zu beginnen. Dafür gebe es "zwingende Gründe", fügte er in einer Pressekonferenz mit Erdogan hinzu und verwies auf die neue geopolitische Lage. Erdogan betonte dagegen, dass die Türkei möglichst schnell EU-Mitglied werden wolle. Merz verwies darauf, dass das Land dafür aber nicht die nötigen Rechtsstaatskriterien erfülle.
Merz' Antrittsbesuch in Ankara war auf Harmonie ausgelegt. In der gemeinsamen Pressekonferenz zeigten sich auch Differenzen, etwa im Umgang mit Israel. Auch beim Thema Rechtsstaatlichkeit zeigten sich Differenzen. In seinen Gesprächen mit Erdogan habe er Besorgnis über die Unabhängigkeit der Rechtsprechung geäußert, sagte Merz nur kurz.
Menschenrechtler sehen Höhepunkt
Erdogan ging auf eine Journalistenfrage hin deutlich ausführlicher auf die Inhaftierung des abgesetzten Istanbuler Bürgermeisters und populären Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu ein und verteidigte das Vorgehen der Justiz: "Egal welches Amt man innehat, sobald jemand die Justiz mit Füßen tritt, müssen die Justizorgane in einem Rechtsstaat eben das tun, was notwendig ist." Nach Einschätzungen von Menschenrechtlern hat der Druck auf unabhängige Medien, kritische Stimmen und Oppositionsparteien in der Türkei in den zurückliegenden Monaten einen neuen Höhepunkt erreicht.
Imamoglu war im März wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet und abgesetzt worden. Er ist seitdem ohne Anklage in Untersuchungshaft. Kurz vor dem Besuch des Bundeskanzlers war bekanntgeworden, dass gegen den Politiker der größten Oppositionspartei CHP erneut ein Haftbefehl wegen Spionage erlassen wurde. Imamoglus Festnahme hatte die größte Protestwelle in der Türkei seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 ausgelöst.
Quelle: ntv.de, gut/AFP/rts/dpa