Kanzler sagt Paris "Merci" Scholz und Macron beschwören EU-Zeitenwende
22.01.2023, 15:26 Uhr
Zuletzt knirscht es zwischen Berlin und Paris. Scholz sagt, das sei ganz normal für ein couple fraternel.
(Foto: REUTERS)
Zum 60. Jahrestag des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags bescheinigen Kanzler Scholz und Präsident Macron der EU einen gewaltigen Reformbedarf. Von einer Eiszeit Paris-Berlin wollen beide nichts wissen. Das Duo sei eine gut geölte Kompromissmaschine.
Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordern eine selbstbewusstere Rolle der EU in der Welt. "Womöglich stehen wir vor einer noch viel größeren Zeitenwende. Einer Zeitenwende hin zu einer multipolaren Welt, der wir nicht mit dem Rückzug ins nationale Schneckenhaus begegnen können", sagte Scholz am Nachmittag in Paris bei der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages (Elysée-Vertrag). Man könne sich "kein kleines, verzagtes Europa" mehr leisten, das sich nationalen Egoismen hingebe und Gräben aufreiße zwischen Ost und West, Nord und Süd.
Scholz dankte Frankreich für seine Freundschaft. "Danke, Herr Präsident - danke aus ganzem Herzen", sagte der SPD-Politiker auf Französisch an Staatschef Macron gewandt. Auch den Franzosen dankte er: "Danke Ihnen, unseren französischen Brüdern und Schwestern, für Ihre Freundschaft", sagte Scholz bei einem Festakt der Parlamente beider Länder weiter auf Französisch. Scholz und Macron betonten unter starkem Applaus, dass die EU ihre Unterstützung für die Ukraine gegen den russischen Angreifer fortsetzen werde. "Putins Imperialismus wird nicht siegen", sagte Scholz.
Zu den Feierlichkeiten zum Jahrestag kamen in Paris die Kabinette und Parlamente beider Länder zusammen. Deutschland und Frankreich müssten Vorreiter bei der Neugründung Europas sein, forderte Macron. Er verwies darauf, dass sich die EU bei einem Treffen in Versailles vergangenen März bereits vorgenommen habe, strategische Abhängigkeiten in den Bereichen Energie, Militär oder Nahrungsmittel zu verringern. Es bleibe aber viel zu tun. Der Kanzler verwies auf die nötige Erweiterung der EU und das erforderliche Zurückdrängen des Veto-Rechts bei Entscheidungen innerhalb der Union.
Kein süßer Schmus, keine leere Symbolik
Macron und Scholz erwähnten auch den europäischen Aufbaufonds mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro, der zur Überwindung der Folgen der Corona-Pandemie vereinbart worden war. Mit Blick auf die französische Forderung, nun einen neuen Solidaritätsfonds nachzuschieben, fügte der französische Präsident hinzu, dass die EU verantwortlich sei "für unsere Entscheidungen, die wir treffen und unsere Entscheidungen, die wir nicht treffen". Scholz hat Vorbehalte gegenüber einem neuen Fonds und hatte erst vor wenigen Tagen darauf verwiesen, dass erst 20 Prozent der Summe im Solidaritätsfonds überhaupt ausgezahlt worden seien.
Der Kanzler spielte zudem Differenzen zwischen Paris und Berlin in einer Reihe von Fragen herunter. "Der deutsch-französische Motor ist eine Kompromissmaschine - gut geölt, aber zuweilen eben auch laut und gezeichnet von harter Arbeit", betonte er. "Seinen Antrieb bezieht er nicht aus süßem Schmus und leerer Symbolik. Sondern aus unserem festen Willen, Kontroversen und Interessenunterschiede immer wieder in gleichgerichtetes Handeln umzuwandeln."
Polen warnt vor deutsch-französischem Führungsanspruch
Es sei normal, dass es wegen unterschiedlicher Strukturen der Politik und Wirtschaft sowie anderen historischen Erfahrungen immer wieder Differenzen zwischen beiden Ländern gebe, fügte der Kanzler mit Blick auf Meinungsverschiedenheiten etwa in der EU-Finanz- und Industriepolitik hinzu. Gerade deshalb seien Lösungen aber auch für andere in der EU akzeptabel. "Nur mit dem anderen an unserer Seite - als Freund und engstem Partner, als couple fraternel - hat auch unser eigenes Land eine gute Zukunft."
In mehreren Reden in einem Festakt an der Pariser Sorbonne-Universität wurde die Aussöhnung beider Länder nach dem Zweiten Weltkrieg gelobt. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hatte vor wenigen Tagen in Berlin davor gewarnt, dass zwei Staaten die EU führen wollten. Der deutsch-französische Ministerrat hatte eigentlich schon im Herbst vergangenen Jahres stattfinden sollen, war aber verschoben worden. Die Bundesregierung hat nur mit Frankreich Treffen der gesamten Kabinette beider Länder vereinbart. Das gesamte Bundeskabinett war bis auf Arbeitsminister Hubertus Heil nach Paris geflogen.
Quelle: ntv.de, mau/rts/dpa