Reisners Blick auf die Front "Sehen einen bemerkenswerten Erfolg der Ukraine"
10.07.2023, 19:09 Uhr Artikel anhören
Streumunition ist international geächtet und die Entscheidung der USA, sie an die Ukraine zu liefern, führte am Wochenende zu starker Kritik westlicher Alliierten. Aus militärischer Sicht müsse man aber zugeben, dass die Art des Geschosses eine hohe Wirkung erzielt, sagt der österreichische Oberst Markus Reisner im Interview. "Die Ukraine kann damit einerseits konzentrierte Truppeneinheiten und andererseits die Reserven der Russen angreifen." Das sei genau der Grund, weshalb den Ukrainern bislang kein Durchbruch geglückt sei. "Bemerkenswerte" Fortschritte machen die Ukrainer trotzdem, so Reisner - vor allem im Süden und Norden von Bachmut, wodurch den Russen irgendwann sogar eine Einkesselung drohen könnte.
ntv.de: Letzte Woche haben Sie gesagt, dass die Ukrainer ihre Taktik bei Angriffen auf dem Schlachtfeld geändert hätten. Lässt sich bereits erkennen, dass sie damit Erfolg haben?

Jeden Montag beantwortet Oberst Markus Reisner bei ntv.de Fragen zur aktuellen Lage in der Ukraine. Er ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.
(Foto: privat)
Markus Reisner: Die Ukraine hat vor circa 14 Tagen damit begonnen, kleinere Angriffsgruppen in Gefechtsstreifen von fünf bis neun Kilometer Breite einzusetzen, die den Auftrag haben, zu sondieren, wo sich womöglich Lücken in der russischen Verteidigungslinie befinden. Wird eine solche Lücke gefunden, hält die Ukraine in der Tiefe mechanisierte Kampfgruppen bereit. Diese bestehen meistens aus mehreren Kampf- und Schützenpanzern und werden nach vorne gezogen, um zu versuchen, die entdeckte Lücke auszunutzen. Die Idee ist, dass man dann sehr rasch vorstößt, die russischen Stellungen überwindet und an einen Punkt gelangt, an dem man sich festsetzen kann. Das ist im optimalen Fall eine Ortschaft. Noch ist das der Ukraine aber noch nicht nachhaltig gelungen.
Wie reagiert Russland auf diese Taktik?
Die Russen führen eine sogenannte bewegliche Verteidigung durch. Das heißt, sie sind auf derartige Vorstöße vorbereitet. Sie versuchen zu erkennen, wo eine ukrainische Angriffsgruppe Sondierungen durchführt, und setzen ihre Reserven dann an diese Stelle an, beziehungsweise setzen sie ihre Kräfte gegen die von der Ukraine nachgeschobenen Kampfgruppen ein. Hier kommt auch die Absicht ins Spiel, Streumunition zu liefern. Denn dadurch versucht die Ukraine, genau diesen Reserveeinsatz der Russen zu verhindern.
Welchen Effekt könnte die Ukraine mit der Streumunition erzielen?
Einerseits können damit konzentriert bereitgehaltene Truppeneinheiten bekämpft werden, die bereits an der Frontlinie angreifen. Andererseits versucht man aber auch die Russen bereits beim Anmarsch zu treffen, damit der ukrainische Durchbruchsversuch im kleinen Rahmen Erfolg haben kann.
Wie weit hinter der Frontlinie können die Ukrainer die Reserven der Russen angreifen? Wie ist die Reichweite der aus den USA gelieferten Streumunition?
Das kommt auf die Munitionssorte an. Wie wir jetzt wissen, wird wahrscheinlich M864-Munition geliefert, die von Artillerie verschossen wird, also aus Rohren mit einem Kaliber von 155 Millimeter. Jedes Geschoss trägt insgesamt 72 kleine sogenannte Bomblets. Das sind kleine Sprengkörper, die eine große Flächenwirkung erzielen. Das ist genau das, was geeignet ist, um Reservekräfte oder Truppenkonzentration anzugreifen. Die Reichweite richtet sich nach der verwendeten Treibladungsgröße und beträgt bis über zwanzig Kilometer.
Macht es militärisch für die Ukrainer einen großen Unterschied, wenn sie diese Streumunition einsetzen?
Es setzten ja bereits beide Seiten seit Beginn des Krieges diese Munition ein. Auf der einen Seite die Russen, mit ihren Mehrfachraketenwerfern des Typen BM-27 oder BM-30 Smerch. Aber auch die Ukraine hat angefangen, Streumunition einzusetzen, weil sie sich eben besonders für Truppenkonzentrationen eignen und man auf einer entsprechend großen Fläche eine Wirkung erzielen kann. Das ist auch hier die Absicht.
Warum ist dann wieder ein Streit um die Frage entfacht, ob die USA der Ukraine diese Art von Munition liefern sollte, wenn es eh schon beide Seiten einsetzen?
Das hat damit zu tun, dass im Jahr 2003 über 100 Staaten einem Abkommen beigetreten sind, die eine derartige Munition verbietet. Würde eins dieser Länder Streumunition einsetzen, würden sie das Völkerrecht missachten. Korrekterweise muss man aber sagen, dass die USA, Russland und die Ukraine dem Abkommen nicht beigetreten sind.
Wenn die Ukraine bereits selbst Streumunition besitzt, warum braucht sie dann noch mehr?
Man erwartet sich durch den vermehrten Einsatz dieser Munition, dass es gelingen könnte, die russischen Stellungen einerseits aufzubrechen, indem man die Stellungssysteme angreift und andererseits es den Russen unmöglich macht, Reserven heranzuholen. Gerade diese Reserven waren es oft, die Vorstöße der Ukraine wieder zum Erliegen gebracht haben. Das möchte man dem Einsatz verhindern.
Könnte man nicht einfach mehr Artilleriegeschosse liefern?
Das ist genau das Problem der Ukraine. Sie stehen vor der Herausforderung, eben nicht genug Artilleriemunition zu haben. Man geht davon aus, dass Russland letztes Jahr im Sommer bis zu 80.000 Schuss Munition pro Tag verschossen hat und die ukrainische Seite circa 20.000 bis 30.000 Schuss. Diese Zahlen sind in diesem Jahr etwas zurückgegangen, aber es ist immer noch so, dass die russische Seite eine Überlegenheit in der schieren Anzahl der Munition hat. Die Europäische Union will bis Ende des Jahres eine Million Artilleriegranaten liefern. Das Problem aber ist, dass die Ukraine zu wenig Artilleriemunition hat, um eine vergleichbare Wirkung erzielen zu können wie eine Granate, die 72 kleine Sprengkörper auf großer Fläche auswirft.
Wenn beide Seiten bald mehr Streumunition einzusetzen, wie wird es möglich sein, die Ukraine später von nicht detonierten Blindgängern zu befreien?
Das ist eine grundsätzliche Frage, die sich schon aufgrund des massiven Einsatzes von Artilleriemunition in den letzten Monaten stellt. Russland soll laut Experten letztes Jahr um die sieben Millionen Artilleriegranaten verschossen haben. Manche gehen sogar von bis zu zehn Millionen aus. Dazu kommt noch die Munition, die die Ukraine verschossen hat. Gerade in jenen Gebieten, die als die Kornkammer der Ukraine bezeichnet werden. Das sind also Aufgaben, die uns die nächsten Jahrzehnte beschäftigen werden. Bosnien leidet seit dem Balkan-Krieg bis heute unter verminten Gebieten. Streumunition verschärft das Problem noch einmal. Die Munition, die für eine Lieferung in Frage kommt, hat eine ungefähre Rate von drei bis dreizehn Prozent an Blindgängern. Das ist schon sehr hoch und muss geräumt werden, damit die Zivilbevölkerung nicht massiv verletzt wird und weil es sich hier um Weizenanbaugebiete handelt. Das muss alles wiederhergestellt werden, wenn dort irgendwann mal wieder Weizen angebaut werden soll.
Die Lieferung von Streumunition hat viel Empörung und Kritik unter Verbündeten der USA und der Ukraine ausgelöst. Finden Sie eine Lieferung moralisch verwerflich oder überwiegt der militärische Vorteil?
Ich bin Angehöriger der Streitkräfte eines Landes, das diese Konvention unterschrieben hat, keine Streumunition zu besitzen oder einzusetzen. Damit bin ich an diese Vorgaben gehalten. Aber wenn man es rein militärisch betrachtet, muss man zugeben, dass sie aufgrund der Art und Weise, wie dieses Geschoss konstruiert ist, eine hohe Wirkung hat. Die Riesenherausforderung besteht darin, nach dem Konflikt alles entsprechend so zu räumen, dass es nicht zu Verstümmelungen und Verletzungen der Zivilbevölkerung kommt. Das war auch der Grund, warum man sich zu dieser Konvention durchgerungen hat. Die Idee einer solchen Konvention ist, dass sich alle daran halten, alle unterschreiben. Wenn das nicht der Fall ist, dann haben wir genau das Dilemma, dass der eine es einsetzen kann und der andere nicht.
Blicken wir noch einmal auf die Frontlinie. Machen die Ukrainer mit ihrer neuen Taktik Fortschritte?
Die größten Vorstöße haben ukrainische Truppen im Süden bei Welyka Nowosilka erzielt, hier sind es mittlerweile vier bis fünf Kilometer. Aber wir sehen noch keinen massiven Durchbruch. Als signifikant kann man die Situation in Bachmut bezeichnen. Das Stadtgebiet ist immer noch in russischer Hand, aber im Norden und vor allem Süden davon ist es den Ukrainern gelungen, diese Frontvorstöße der Russen zurückzudrängen. Hier sehen wir tatsächlich einen bemerkenswerten Erfolg der Ukraine.
Droht den Russen dann die Einkesselung in Bachmut, wie einst den Ukrainern?
Das könnte sein, wenn es den Ukrainern gelingen würde, die Vorstöße im Norden und Süden Bachmuts wesentlich weiter in Richtung Osten zu treiben. Dann könnte die Stadt zu einem Kessel für die russische Seite werden. Das ist aber noch nicht der Fall.
Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de