Die vier wichtigsten Gründe Warum die Gegenoffensive so langsam vorangeht


Die Offensive fordert auf beiden Seiten hohe Verluste. Jeder militärischer Schritt der Ukrainer muss daher gut überlegt sein.
(Foto: REUTERS)
Meter für Meter kämpfen sich ukrainischen Streitkräfte mühsam an der Frontlinie vor, um den Süden und Osten ihres Landes zu befreien. Bisher sind ihnen aber nur kleinere Geländegewinne gelungen. Das hat mehrere Gründe.
Seit 26 Tagen läuft die entscheidende Phase der ukrainischen Gegenoffensive und bislang ist der große Durchbruch ausgeblieben. Stattdessen machen die Ukrainer nur kleinere Geländegewinne und müssen an anderen Stellen entlang der Frontlinie Offensiven der Russen abwehren, was teilweise sogar zu Landverlust an die Besatzer führt.
Bislang konnte die ukrainische Armee jede Woche weniger als 50 Quadratkilometer befreien. Russland kontrolliert derzeit etwa 17 Prozent des ukrainischen Territoriums. Wenn die Ukraine in den kommenden Wochen nicht schneller vorankommt als bisher, wird sie erst nach 16 Jahren ihr gesamtes Land befreit haben, rechnete die "Washington Post" vor.
Selbst Präsident Wolodymyr Selenskyj erhoffte sich eigentlich schnellere Fortschritte, wie er in einem Interview mit der BBC einräumte. Woran aber liegt es, dass die ukrainische Armee nur langsam vorankommt? Die vier wichtigsten Gründe.
Fehlende Luftunterstützung
Ein großes Manko der Ukraine ist ihre unzureichende Luftabwehr. Es fehlt ihr an potenten Luftstreitkräften und Fliegerabwehr. Die brauchen sie, um ihre Panzer-Kolonnen vor Angriffen russischer Kampfhubschrauber zu schützen. Der Hubschrauber "Alligator", den die Russen einsetzen, kann mit seinen Raketen Ziele in einer Distanz von acht Kilometern erreichen. Um zu vermeiden, dass die Hubschrauber ihre Kolonnen attackieren, bevor sie überhaupt dort ankommen, wo sie angreifen sollen, braucht die Ukraine Kampfflugzeuge zur Abwehr.
Die Ukraine hat zwar noch Jets sowjetischer Bauart, allerdings nicht genug, um sowohl ihre Städte als auch die Truppen an der Front zu schützen. Russland nutzt dieses Dilemma der Ukrainer aus, indem es mit Drohnen und Marschflugkörpern gezielt ukrainische Städte angreift - wie am Dienstag bei einem Angriff auf ein Restaurant in Kramatorsk. Will die Ukraine also die Flugabwehr an der Front einsetzen, müssen sie die Städte entblößen.
Dazu kommen die Stellungen des Gegners: Hätten die Ukrainer eigene Kampfflugzeuge, könnten sie vor einem Angriff die russischen Stellungen bearbeiten, damit ein Angriff auf sie zu 100 Prozent wirken könnte, sagt Oberst Reisner in einem Interview mit ntv.de. Deshalb bittet Kiew seit Monaten um F-16-Jets. Ohne die Lieferung internationaler Kampfflugzeuge wird Russland die Oberhand in der Luft behalten.
Massiver Einsatz von Minen
Der Einsatz von Landminen ist international geächtet, wird von den Russen aber mit Vorliebe eingesetzt. 200.000 Quadratkilometer ukrainisches Territorium sind Selenskyj zufolge von russischen Streitkräften vermint worden.
Ein besonderes Problem für die Streitkräfte dabei sind sogenannte fernverlegbare Minen. Dafür nutzen russische Truppen den Minenwerfer ISDM "Zemledeliye". Dabei handelt es sich im Grunde um ein Raketensystem, das vorprogrammierbare Minen auf eine Distanz von fünf bis fünfzehn Kilometern abwerfen kann. Damit kann die russische Armee binnen weniger Minuten ein ganzes Minenfeld vor anrückende ukrainische Truppen werfen, ohne auch nur in ihre Nähe kommen zu müssen.
Durch die große Reichweite ist es ihnen sogar möglich, Minen hinter eine ukrainische Panzer-Kolonne zu legen. Das schränkt die Bewegungsfreiheit und den Rückzug der Ukrainer ein und stoppt den Nachschub von Reserven. Dabei setzen die Russen zwei unterschiedliche Arten von Minen ein: Antipersonenminen zielen auf die Tötung oder Verstümmelung des Gegners ab, während die Explosionskraft von Panzerminen groß genug ist, um Fahrzeuge zu zerstören.
Die Ukrainer müssen deshalb, um vorwärtszukommen, jeden Meter von Minen befreien. Das kostet Zeit. Deshalb setzen sie mittlerweile kaum noch Minenräumer ein, sondern sprengen sich Durchgänge durch die Minenfelder. Dadurch sind sie in ihrer Bewegungsfreiheit jedoch massiv eingeschränkt, weil sie links und rechts kaum Spielraum für Wendemanöver haben. Das wiederum führt dazu, dass wegen ihrer fehlenden Luftabwehr anfällig für Angriffe aus der Luft sind. Laut Experten sind so bereits mehrere westliche Panzer, darunter der deutsche Leopard und der US-Panzer Bradley, zerstört worden.
Einsatz von elektronischer Kampfführung
Eine vergleichsweise neue Kriegsmethode ist die Störung des elektronischen Feldes. Dafür werden Störer eingesetzt, die das elektromagnetische Spektrum und damit die Funkkommunikation einschränken. Die Russen haben Störer in den vergangenen Wochen sehr erfolgreich eingesetzt, um die Kommunikation der Ukrainer untereinander zu stören.
Auch die Ukrainer haben es mit der gleichen Methode geschafft, das elektronische Feld der Russen zu stören. Dadurch konnten diese ihre Drohnen in dem Gebiet nicht mehr gezielt einsetzen, erklärte Reisner im Interview mit ntv.de. Die Ukraine hatte zudem Probleme, ihre Kommunikation wiederherzustellen, was eine Koordination der Truppen erschwert hat.
Massiver Artillerieeinsatz
Neben Minen, Helikoptern und Störern setzt die russische Armee massiv Artillerie gegen die Ukraine ein. Der Vorteil der Russen dabei ist nicht die Waffe an sich, sondern die Menge der Munition. Man geht davon aus, dass sie im Sommer 2022 pro Tag bis zu 80.000 oder 90.000 Schuss auf die Ukrainer abgefeuert haben. Auf ukrainischer Seite wurde nur ein Drittel davon verschossen, bis zu 30.000.
Im ersten Quartal 2023 habe der Beschuss deutlich abgenommen, schreibt das Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (RISU) in einem Bericht. Demnach schwankte die von den Russen abgefeuert Munition in diesem Jahr zwischen 12.000 und 38.000 Schuss. Die Zahl dürfte aber seit dem Beginn der Offensive wieder deutlich gestiegen sein. "Das russische Feuer ist nach wie vor der wichtigste Faktor bei den Kämpfen", heißt es im Bericht der RISU.
In Kombination mit Minenlegern, Helikoptern und Störern ergibt sich ein erfolgreiches Zusammenspiel der Russen, die das Artilleriefeuer unterstützend zu ihren Angriffen einsetzt und damit eine größtmögliche Wirkung erzielt. Bevor die Ukraine keine Antworten auf diese Herausforderungen findet, wird die Offensive nicht an Fahrt gewinnen.
Quelle: ntv.de