
Die Münchner Sicherheitskonferenz wird in diesem Jahr vom ukrainischen Präsidenten Selenskyj eröffnet. Er nennt seinen Kurs alternativlos und spricht vom Kampf Davids gegen Goliath. Er weiß, dass er um schnelle Unterstützung ringen muss.
Vor einem Jahr war Wolodymyr Selenskyj vor Ort auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Der ukrainische Präsident wusste um die Lage seines Landes: Russische Truppen standen an den Grenzen, US-Geheimdienste gingen längst von einer Invasion aus. Allenfalls westeuropäische Politiker wie Frankreichs Präsident François Macron oder Bundeskanzler Olaf Scholz hofften noch auf eine friedliche Lösung.
Die Hoffnungen zerstoben nur einen Tag nach Ende der Sicherheitskonferenz, als Russlands Machthaber Wladimir Putin am 21. Februar 2022 die Separatistengebiete anerkannte und der Ukraine die Souveränität absprach. Der Überfall war beschlossene Sache, er begann drei Tage später.
Ein Jahr später ist der Krieg, der der Ukraine aufgezwungen wurde, das Hauptthema des Sicherheitstreffens in München. Gleich zu Beginn zeigt ein von Klaviermusik begleiteter Film Szenen der vergangenen zwölf Monate: den Überfall, die zahllosen Luftangriffe auf ukrainische Städte, russische Kriegsverbrechen. Dem neuen Chef der Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, kommen fast die Tränen, als er den Film ankündigt. So emotional ist es selten auf diesem Treffen von Politikern, Diplomaten und Militärs.
Dann ist Selenskyj per Livestream zugeschaltet. Der Krieg hat ihn auch äußerlich verändert: Statt eines jugendlich wirkenden Mannes im Anzug, der er noch vor einem Jahr war, spricht ein bärtiger Präsident, mit rauer, aber eindringlicher Stimme. Er ist äußerst ernst, denn der Krieg in seinem Land befindet sich an einem entscheidenden Punkt. Nach der Materialschlacht des Winters beginnt Russland seine Frühjahrsoffensive. Selenskyj ist bewusst, dass Russland über weit größere Reserven verfügt, sowohl an Menschen als auch an Material. Gelingt den Kreml-Truppen ein Durchbruch, könnte das eine Wende im Krieg sein. Und die versprochenen Waffenlieferungen des Westens lassen auf sich warten, mit Kampfpanzern wird erst in Monaten gerechnet.
"David zu sein, bedeutet kämpfen"
Selenskyj weiß, dass die Unterstützung des Westens nicht mehr so selbstverständlich ist wie vor einem Jahr. Westeuropa, die USA - mit der republikanischen Mehrheit im Kongress - drohen, kriegsmüde zu werden. Umso grundsätzlicher, appellierender wird seine Rede: "Wir alle sind die freie Welt, jeder gehört dazu", sagt der Präsident zum Publikum, in dem vor allem Vertreter der EU und der NATO sitzen. "Wir müssen Goliath besiegen, der uns zerstören will. Das betrifft uns alle."
Goliath ist der biblische Riese, ein unbesiegbarer Philister, dem sich der Hirtenjunge David entgegenstellt - und mithilfe einer Steinschleuder besiegt. Die Organisatoren der Sicherheitskonferenz hatten Selenskyjs Auftritt unter das Motto "David am Dnipro" gestellt. In seiner Rede wird Selenskyj dieses Bild immer wieder heraufbeschwören: ein schwacher, unterlegender David, der den übermächtigen Riesen mit einer einfachen Waffe bezwingt. Die Verteilung ist klar: Die Atommacht Russland ist Goliath, die Ukraine David. Doch David stehe nicht nur am Dnipro und den anderen Flüssen in der Ukraine, er stehe auch an der Spree, an der Seine, an der Themse und am Potomac in Washington. Ein Jahr lang hat die Ukraine mit westlicher Unterstützung der Invasion Widerstand leisten können - allen Unkenrufen zu Kriegsbeginn zum Trotz. "David zu sein, bedeutet kämpfen. Das bedeutet, dass man gewinnen muss", sagt Selenskyj.
Der Präsident spricht über seinen Besuch in München vor einem Jahr - und seine Enttäuschung ist kaum zu überhören. "Ich war im vergangenen Jahr in München auf der Suche nach gemeinsamer Entschlossenheit", sagt er. "Ich wollte von der Welt hören: Wir stehen euch bei. Leider habe ich das erst gehört, nachdem der Angriff angefangen hat." Selenskyj verbindet dies mit seiner schon vielfach vorgetragenen Bitte um Waffen. Russland versuche, sich Zeit zu erkaufen, sagt er. "Wir müssen schnell sein, schnell liefern, damit unsere Steinschleuder schneller wird." Es gebe keine Alternative zu dieser Geschwindigkeit, "denn davon hängt unser Leben ab". Soll heißen: Die Alternative zum Kampf wäre das Ende der Ukraine. Deshalb müsse die Verteidigung der Ukraine mit modernen Panzern verstärkt werden.
"Goliath muss verlieren"
"Es gibt keine Alternative" - diese Formulierung fällt immer wieder in Selenskyjs Rede. "Es gibt keine Alternative: Die Ukraine muss siegen. Es gibt keine Alternative dazu, dass die Ukraine Mitglied der EU und der NATO wird." Goliath müsse verlieren - auch das ist für Selenskyj alternativlos. "Wenn Entscheidungen verzögert werden, nützt das Putin." Kompromisse lässt er da nicht gelten "Wenn russische Waffen auf uns schießen, dann zeigen sie auch schon auf unsere Nachbarn. Das kann nicht Thema eines Kompromisses sein. (…) Auch die Freiheit kann nicht zum Thema eines Kompromisses werden."
Selenskyj will diesen Krieg bis zur Befreiung seines Landes führen, das macht er in seiner Rede klar. Doch er begründet dies auch gut: "Die Ukraine wird nicht das letzte Land sein, das Putin angegriffen hat." Alle Länder des ehemaligen Sowjetblocks seien bedroht. Man müsse immer wieder darüber sprechen, wer den Krieg begonnen hat und warum, sagt Selenskyj, und warnt vor dem Machthunger Putins, vor den Drohnenlieferungen, mit denen der Iran Geld verdiene, vor den Profiten, die Russland trotz Sanktionen erziele. "Der Kreml ist schon einen Schritt weiter", lautet seine deutliche Kritik an westlicher Zögerlichkeit.
Der ukrainische Präsident kennt die Probleme genau, vor denen westliche Regierungen stehen. Umso eindringlicher ringt er um die westliche Geschlossenheit. "Wenn wir keine Einheit erzielen, desto stärker geht Russland vor", sagt er. Putin arbeite hart daran, einen Keil zwischen die Mitglieder der EU zu treiben. Darum sorge er für all die Probleme bei Energielieferungen und Inflation.
Doch, da ist sich Selenskyj sicher: "Goliath hat schon angefangen zu verlieren. Goliath wird auf jeden Fall dieses Jahr fallen." Viel habe die Ukraine bereits erreicht. Sie könne russische Angriffe abwehren und die Bürger vor russischen Raketen schützen. Viele Dörfer und Städte seien bereits befreit worden. Zum Schluss kommt er noch einmal auf das biblische Bild zurück: "Wir alle sind der David der freien Welt und wir werden die Putins dieser Welt besiegen." Die Sicherheitskonferenz im kommenden Jahr werde die erste nach dem Krieg sein, ist er sich sicher. Dann werde eine freie Ukraine daran teilnehmen. Zumindest dann, wenn der Westen genug Steinschleudern liefert.
Quelle: ntv.de