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Atomkraftwerke als Kriegswaffe So ist die Lage in den ukrainischen AKW

Dass Russland ukrainische Kernkraftwerke erobert, bereitet vielen Menschen Sorgen.

Dass Russland ukrainische Kernkraftwerke erobert, bereitet vielen Menschen Sorgen.

(Foto: picture alliance/dpa/SOPA Images via ZUMA Press Wire)

Die Ukraine ist nach Angaben der Internationalen Energieagentur IAEA der weltweit siebtgrößte Produzent von Atomenergie. Das Land betreibt insgesamt 15 Reaktoren an vier Standorten - die Russland nach seinem Einmarsch als strategische Waffe einzusetzen scheint. Die Atomruine Tschernobyl und das europaweit größte Kernkraftwerk in Saporischschja haben russische Truppen bereits erobert. Nicht weit entfernt, im AKW Süd-Ukraine, werden ebenfalls Truppenbewegungen gemeldet. Neue Sorgen bereitet eine gekappte Stromversorgung. Im Westen des Landes ist die Lage dagegen vergleichsweise ruhig.

Tschernobyl

Die Atomruine in Tschernobyl wurde am ersten Tag der Invasion von russischen Truppen erobert und befindet sich seitdem unter ihrer Kontrolle. Mehr als 200 technische Mitarbeiter und Wachleute sind auf dem Gelände eingeschlossen. Sie arbeiten inzwischen 13 Tage am Stück ohne Ablösung. Die Situation verschlechtere sich, warnte die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) am Dienstag unter Berufung auf ukrainische Behörden. Normalerweise arbeiten mehr als 2000 Menschen in rotierenden Schichten in dem Sperrgebiet.

Ebenfalls am Dienstag meldete die IAEA, dass die Überwachungssysteme in der Atomruine keine Daten mehr übertragen. Damit wird unter anderem festgestellt, ob radioaktives Material entweicht. Demnach können ukrainischen Behörden nur noch per E-Mail mit ihren Mitarbeitern vor Ort kommunizieren.

Auch die Stromversorgung bereitet Sorgen: Der ukrainische Netzbetreiber Ukrenerho teilt heute mit, dass Stromleitungen durch Beschuss beschädigt worden seien. Demnach verhindern Kampfhandlungen nördlich von Kiew alle Reparaturarbeiten. Teile der Atomruine sind dringend auf eine stabile Stromversorgung angewiesen.

Saporischschja

Russische Truppen haben Europas größtes AKW nach einem Feuergefecht am 4. März besetzt. Von den sechs Reaktoren ist derzeit nur Block 4 in Betrieb. Die Blöcke 3 und 4 wurden bei dem russischen Angriff heruntergefahren, die anderen befanden sich bereits in Revision.

Die Internationale Atomenergiebehörde betrachtet auch die Entwicklung in Saporischschja mit Sorge. Die Ukraine habe mitgeteilt, dass das Kernkraftwerk weiterhin durch reguläres Personal betrieben werde, die Werksleitung jedoch unter dem Befehl eines Kommandeurs der russischen Streitkräfte stehe. Die Zustimmung des Kommandeurs ist laut IAEA-Chef Rafael Grossi für alle Maßnahmen im Zusammenhang mit dem technischen Betrieb der sechs Reaktorblöcke nötig. Dies widerspreche dem Sicherheitskonzept von Kernkraftwerken, sagt Grossi.

Der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko behauptete auf Facebook sogar, dass das Personal als Geisel gehalten und von den russischen Truppen gefoltert werde. Seinen Angaben zufolge sind die Mitarbeiter "physisch und psychisch erschöpft". IAEA-Chef Grossi bot an, persönlich nach Saporischschja, Tschernobyl oder an einen anderen Atom-Standort in der Ukraine zu reisen, um über die Sicherung der Nuklearanlagen zu verhandeln.

Süd-Ukraine

Das Kernkraftwerk Süd-Ukraine befindet sich rund 350 Kilometer südlich der Hauptstadt Kiew und 450 Kilometer westlich von Saporischschja. Mit seinen drei Reaktoren erzeugt es ungefähr halb so viel Energie wie Saporischschja. Nach ukrainischen Angaben dürfte es das nächste Ziel der russischen Truppen sein. Das ukrainische Innenministerium hatte nach der Eroberung von Saporischschja gemeldet, dass sie auf dem Weg dorthin seien. Der Chef der staatlichen Betreiberfirma Energoatom, Petro Kotin, sagte zuletzt in der "New York Times", dass sie sich derzeit etwa 30 Kilometer vom Kernkraftwerk Süd-Ukraine entfernt befinden. Diese Meldung liegt allerdings schon fünf Tage zurück.

Chmelnyzkyj

Das Kernkraftwerk Chmelnyzkyj befindet sich im Westen der Ukraine. Die Blöcke 1 und 2 sind in Betrieb. Der Bau der Blöcke 3 und 4 wurde ebenfalls in den 80er Jahren begonnen, aber 1990 unterbrochen. Im Anschluss diskutierten Russland und die Ukraine regelmäßig eine Vollendung, alle Vereinbarungen dazu wurden allerdings 2015 nach der russischen Annexion der Krim und dem Konflikt in der Ostukraine aufgehoben. Im November 2020 wurden die Arbeiten mit Unterstützung der EU wieder aufgenommen.

In der Region Chmelnyzkyj sollen am 24. Februar, dem ersten Tag der russischen Invasion, zwei Munitionslager angegriffen worden sein. Seitdem finden sich keine weiteren Berichte über russische Angriffe.

Riwne

Das Kernkraftwerk Riwne befindet sich im Nordwesten der Ukraine, nicht weit entfernt vom AKW Chmelnyzkyj und der belarussischen Grenze. Am zweiten Tag der Invasion wurden Kämpfe aus der Region gemeldet. Berichten zufolge gab es zwei russische Luftschläge auf den Flughafen der Stadt Riwne, die aber nicht zum Erfolg führten.

Am Dienstag veröffentlichte die amerikanische Rundfunkplattform NPR eine Reportage aus dem Kernkraftwerk. Es befindet sich nach wie vor in Betrieb. Nach Angaben des Direktors gab es bisher keinen Versuch russischer Truppen, es einzunehmen. Ein hochrangiger Militärvertreter, der bei dem Besuch der amerikanischen Reporter vor Ort war, ist allerdings überzeugt, dass Russland die Kernkraftwerke als Waffe einsetzen will. "Putin wird keine Atomwaffen einsetzen, aber er droht, aus Saporischschja das nächste Tschernobyl zu machen", sagt er.

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Es gibt zwei Vermutungen, beide laufen im Endeffekt auf Erpressung als Kriegstaktik hinaus. Eine Möglichkeit ist demnach, dass Russland der Ukraine durch die Eroberung der AKW die Stromversorgung abschneiden und die Führung in Kiew auf diese Weise zur Kapitulation zwingen will. Das ist vor allem deshalb vorstellbar, weil die Hälfte des Stroms in der Ukraine durch Kernkraft erzeugt wird. "Wenn sie die Stromerzeugung im Süden kontrollieren, kontrollieren sie den gesamten Süden", warnt auch Energoatom-Chef Kotin.

Die zweite Möglichkeit betonen die ukrainischen Streitkräfte sehr oft und sehr deutlich: Sie erwarten zwar nicht, dass der russische Präsident Wladimir Putin seine Atomwaffen einsetzt, vermuten allerdings, dass er einen zweiten Atomunfall als Drohpotenzial einsetzen könnte - ebenfalls um Kiew zur Aufgabe zu zwingen, wie der ukrainische Militärvertreter in Riwne zu NPR sagte.

Quelle: ntv.de

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