Politik

Bundeswehr startet mit Arrow 3Starke Waffe, aber wo ist der Gegner?

03.12.2025, 19:58 Uhr UnbenanntVon Frauke Niemeyer
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Das Abschussgerät des neuen Raketenabwehrsystems Arrow 3 steht nach der Inbetriebnahme in der Annaburger Heide. (Foto: picture alliance/dpa)

Deutschland kann bald, was niemand sonst in Europa kann: Raketen im Weltall abfangen. Das neue Arrow 3 System ist technisch hochpotent, doch hat es eine Schwachstelle: Es fehlt der Gegner.

Deutschland auf dem Weg zur Führungsrolle in der europäischen Verteidigung: Im Brandenburgischen werden heute erste Elemente des neuen Raketenabwehrsystems Arrow 3 in Betrieb genommen. Die strategische Fähigkeit, die das israelische System mitbringt, ist "im Kreis unserer europäischen Partner einmalig", so beschreibt es Boris Pistorius. Damit, so der Verteidigungsminister, "sichern wir unsere zentrale Rolle im Herzen Europas".

Was genau ist so einmalig an Arrow 3? Das von Israel entwickelte Abwehrsystem kann Mittelstreckenraketen in einer Höhe von mehr als 100 Kilometern über der Erde abfangen. 100 Kilometer - das ist in etwa die Strecke von Dortmund nach Köln, knapp auch zwischen Hamburg und Bremen, und das senkrecht nach oben geblickt. Hat was. Wer sich diese Flugfähigkeit technisch äußerst anspruchsvoll und hoch entwickelt vorstellt, liegt richtig. Die neue Raketenabwehrwaffe macht die Bundeswehr außerhalb der Erdatmosphäre verteidigungsbereit.

Was immer also in einem möglichen Kriegsfall an Mittelstreckenraketen direkt aus dem Weltall in rasantem Tempo auf Deutschland zukommen könnte: Arrow 3 hätte die feindliche Rakete in null Komma nichts zerlegt. Allerdings, Stand jetzt, könnte da gar nichts kommen.

Exakt aus diesem Grund sorgt die 3,6-Milliarden-Anschaffung der Bundesregierung in der Fachwelt für wenig Begeisterung. Zwar hat Pistorius vollkommen recht, bislang hat außer Deutschland niemand in Europa die Fähigkeit zur sogenannten exo-atmosphärischen Verteidigung. Der Grund dafür leuchtet indes auf Anhieb ein: Der wahrscheinliche Gegner, namentlich Moskaus Machthaber Wladimir Putin, hat nämlich auch nicht die Fähigkeit zum exoatmosphärischen Angriff.

Die Iraner haben sie, und darum ergibt es für Israel viel Sinn, sich mit Arrow 3 gegen ballistische Raketen zu schützen, die von den Mullahs in Teheran ins Orbit geschossen werden und im Steilflug auf Israel wieder runterkämen. Russland indes hat solche Raketen nicht. Und Russland entwickelt sie auch nicht mit Hochdruck, nach allem, was man weiß über strategische Planungen des Kreml. "Zwar soll eine Kurzstreckenrakete auf 1000 Kilometer erweitert werden, die dann die Atmosphäre für einen längeren Zeitraum verlassen würde", sagt der Sicherheitsexperte Fabian Hoffmann von der Universität Oslo. "Aber wenn diese Rakete in Dienst gestellt würde, käme man mit den russischen Kapazitäten maximal auf 50 Stück pro Jahr." Aus Sicht des Experten aktuell kein großes Bedrohungspotenzial.

Kinschal, Iskander und die gängigen russischen Marschflugkörper können die Erdatmosphäre während ihres Anflugs aufs Ziel nicht verlassen, sie bleiben auf ihrer Flugbahn deutlich unter 100 Kilometern Entfernung. Umso besser, könnte man jetzt denken, das macht die Abwehr ja wohl einfacher. Doch mit Blick auf Arrow 3 ist das Gegenteil der Fall: Die Rakete umschließt ein sogenanntes Kill Vehicle, das speziell für den Weltraum, außerhalb der Erdatmosphäre, konzipiert wurde. Erst dort wird es freigesetzt und ist in der Lage, den im All anfliegenden Sprengkopf aus seiner Flugbahn zu rammen. Er wird zerstört, ohne dass irgendetwas davon die Erde erreichen könnte.

So weit, so gut. Innerhalb der Erdatmosphäre, also unter 100 Kilometern Entfernung, kann das Kill Vehicle durch diese Spezialisierung allerdings nicht agieren. "Es stützt sich auf verschiedenste Messgeräte und Kameras", sagt Hoffmann. "Diese Sensorik ist hochsensibel und nur deshalb verwendbar, weil außerhalb der Erdatmosphäre fast keine Luftreibung mehr stattfindet." Innerhalb der Erdatmosphäre jedoch würde die Luftreibung das sensible Kill Vehicle sofort zerstören. Es ist nicht aerodynamisch, nicht hitzebeständig, es würde mit seiner enorm hohen Geschwindigkeit schlicht verglühen.

Außerhalb der Erdatmosphäre, im Weltraum, ist Arrow 3 also ein hochpotentes Raketenabwehrsystem. "In der Zielstruktur kann das System das gesamte Territorium Deutschlands, unsere Bevölkerung und kritische Infrastruktur gegen diese ballistischen Raketen, rund um die Uhr und an 365 Tagen im Jahr schützen", schreibt das Verteidigungsministerium über Arrow 3. Das stimmt, aber die Mitteilung aus dem Hause Pistorius lässt unerwähnt: Solange Deutschland und Europa aus dem Weltraum nicht bedroht werden, ist das System nicht verwendbar.

Nun ist es nicht per se sinnlos, sich auf einen Bedrohungsfall vorzubereiten, der in der aktuellen Lage zwar nicht eintreten kann, aber vielleicht in fernerer Zukunft. Und abwehrbereit gegen Mittelstreckenwaffen des Iran zu sein - muss auch nicht schaden. Zudem ist der zu Arrow 3 gehörende Radar überaus leistungsfähig. Er kann den Himmel über den östlichen Nato-Gebieten mit beobachten. Ein Signal etwa an die Baltenstaaten, dass Deutschland seine Rolle als militärische Führungsnation in Europa ernst nehmen will.

Wenn jedoch in Zeiten der Wirtschaftskrise die finanziellen Ressourcen knapp sind, gleichzeitig in allen Verteidigungs-Dimensionen - Land, Luft, See, Cyberspace - Rückstände aufgeholt werden müssen, stellt sich die Frage: Wäre es sinnvoller gewesen, die 3,6 Milliarden Euro in Verteidigung gegen russische Bedrohungen zu investieren, die auch wirklich existieren?

Für Patriot stehen die Länder Schlange

Aber in was genau? Diese Frage ist tatsächlich nicht so leicht zu beantworten. Patriots sind das System der Wahl, um russische Mittelstreckenraketen abzuwehren. Das präzise agierende Waffensystem schützt die ukrainische Hauptstadt Kiew und manch entscheidende Versorgungsanlage recht verlässlich gegen russische Luftangriffe. Deutschland hat derzeit noch neun Patriotsysteme, zwei davon stehen in Polen. Acht weitere sind 2024 beim US-Hersteller Raytheon bestellt worden, um den Bestand an den wachsenden Bedarf anzupassen. Lieferzeitraum bis 2029.

Diese Bestellung lässt sich kaum kurzfristig erweitern, denn die Patriot-Produktionslinien arbeiten schon länger am Limit. Zwölf Systeme schafft Raytheon nach eigenen Angaben pro Jahr und die Kundenliste ist lang: US-Präsident Donald Trump steht da ganz oben, es folgen die Schweiz, Spanien, Griechenland, Polen, Deutschland, um mal einige zu nennen. Statt Arrow 3 lieber Patriots kaufen - wäre sinnvoll aber nicht ohne weiteres machbar gewesen.

Doch selbst wenn: Einen flächendeckenden Schutz für das deutsche Territorium lässt sich durch Fliegerabwehrsysteme kaum herstellen. Man bräuchte schlicht zu viele der enorm teuren Waffen plus Munition, die bereits mit rund zwei Millionen Euro pro Lenkflugkörper zu Buche schlägt.

Wirtschaftlich sinnvoll ist das kaum und allumfassenden Schutz kann es nicht leisten. Für den Angreifer ist es immer einfacher, eine große Zahl von Sprengköpfen, zusätzlich womöglich noch Täuschkörper abzuschießen, um das Abwehrsystem der Verteidiger zu überfordern. Ein Abfangsystem zu installieren, das gegen jeden Raketenschwarm ankommt - ein solcher Umfang ist nicht leistbar.

Schwachstellen bei der Abwehr müssen also bleiben. Raketenexperte Hoffmann regt an, aus diesem Grund strategisch auf die Bedrohung aus der Luft zu blicken. "Die Produktionsfähigkeiten des Kreml für Raketen und Marschflugkörper übersteigen das, was der Westen an Abwehrwaffen produzieren kann. Das Konzept Deterrence by Denial, also Abschreckung durch Abwehrwaffen stößt an seine Grenzen." Stattdessen plädiert Hoffmann für Deterrence by Punishment. "Wir drohen dem Gegner nicht mit Abwehr, sondern mit Gegenangriff - etwa auf kritische Infrastruktur." Das wäre zum Beispiel möglich mit dem Marschflugkörper Tomahawk, den Deutschland aus den USA erhalten soll. Statt Abschreckung durch Abwehr lieber Abschreckung durch Angriffsdrohung - das wäre ein sehr neuer Ansatz für deutsche Verteidigungspolitik. Doch angesichts der stetig wachsenden Bedrohung aus Russland muss man womöglich nach neuen Ansätzen suchen.

Quelle: ntv.de

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