Politik

Ex-General Hodges im Interview "Ukraine wird im Sommer ihr gesamtes Territorium kontrollieren"

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Der Raketeneinschlag in Polen ruft Ängste vor einer weiteren Eskalation des Krieges hervor. Der frühere Oberkommandeur der US-Armee in Europa, Ben Hodges, schätzt diese Gefahr als gering ein. Dennoch müsse der Westen drei Lehren aus dem Vorfall ziehen, sagt er im ntv-Interview. Indes rechnet der Ex-General mit einer Befreiung der Krim im nächsten Sommer.

ntv: Inzwischen ist bekannt, dass es sich bei dem Raketeneinschlag in Polen nicht um einen gezielten Angriff Russlands gehandelt hat. Trotzdem wirft der Vorfall die Frage auf, ob der Ukraine-Krieg die NATO erreichen wird. Wie groß ist die Gefahr eines Dritten Weltkriegs?

Ben Hodges: Ich glaube nicht, dass das passieren wird. Natürlich ist das russische Verhalten rücksichtslos und gefährlich. Dutzende von Raketen landen auf zivilen Zielen in der ganzen Ukraine. Die Angriffe neulich fanden sehr nahe an der Grenze zu Polen statt. Das ist von russischer Seite unverantwortlich. Trotzdem war ich beeindruckt, wie Polen reagiert hat. Sehr ruhig und angemessen - es wurde nicht überreagiert. Es schien schlimmer zu sein, als es tatsächlich war.

Welche Lehren müssen wir aus dem Vorfall in Polen ziehen?

Drei Dinge. Zunächst einmal ist klar, dass die Ukrainer nicht genug Luft- und Raketenabwehr besitzen. Die Russen sind in der Lage, 90 Raketen an einem Tag abzufeuern, die Kraftwerke und Wohngebiete treffen. Punkt zwei ist das russische Verhalten. Wir wurden daran erinnert, dass sie riskant handeln. Sie versuchen, uns zu bedrängen. Dass Russland ein Ziel so nah an der polnischen Grenze angreifen, sagt einiges aus. Das wird verstärkt durch die Tatsache, dass der massive Angriff während des G20-Gipfels passiert ist. Der russische Außenminister Sergej Lawrow war bei G20. Nachdem er gegangen war, schlugen die 90 Raketen in der Ukraine ein. Das ist eine große Demonstration der Respektlosigkeit gegenüber der internationalen Gemeinschaft durch Russland. Punkt drei: Es ist wichtig, dass wir ruhig bleiben, diszipliniert sind und emotional nicht überreagieren. Wir wissen, dass es in Kriegszeiten Reibungen gibt. Es herrscht Unsicherheit, es gibt menschliche Fehler. Ich war beeindruckt, wie Polen, Deutschland, die USA und die NATO auf die Situation reagiert haben. In weniger als 24 Stunden, mitten auf einem Feld in Polen, fanden sie heraus, woher die Rakete kam und wer wahrscheinlich dafür verantwortlich war. Das ist ziemlich gut.

Was können wir in den nächsten Tagen und Wochen noch von Russland erwarten?

Die Russen verlieren in jeder Facette dieses Krieges an Territorium: auf dem Boden, in der Luft, auf See. Ihre einzige Hoffnung besteht darin, eine Situation zu schaffen, in der sich der Krieg in die Länge zieht. Russland hofft, dass der Westen müde wird und aufhört, die Ukraine zu unterstützen. Die Idee, die Infrastruktur der Ukraine anzugreifen, zielt darauf ab, ukrainische Städte unhaltbar oder unbewohnbar zu machen. Millionen von Ukrainern sollen im Winter das Gefühl haben, nach Europa gehen zu müssen, um zu überleben. Das nennen wir "Flüchtlingswaffe". Eine solche Flüchtlingsbewegung würde mehr Druck auf Berlin, Paris, Warschau und andere europäische Hauptstädte ausüben, die dann wieder Druck auf Kiew ausüben würden. Darum geht es bei diesen Angriffen. Glücklicherweise haben sie nicht mehr viele Raketen. Sanktionen haben verhindert, dass die Russen diese Art von Raketen ersetzen können. Ein Problem sind aber die iranischen Drohnen.

Die Ukraine konnte zuletzt große Erfolge verbuchen. Was kommt als Nächstes?

Die Ukrainer haben eine unumkehrbare Dynamik erreicht. Es gibt kein Zurück. Die Russen haben zwei Versorgungslinien für die Krim. Eine davon ist die Kertsch-Brücke, die natürlich beschädigt wurde. Es wird Monate dauern, bis sie wieder voll funktionsfähig ist. Und dann ist da die andere Route, die sogenannte Landbrücke, die von Rostow entlang der Küste des Asowschen Meeres durch Mariupol auf die Krim führt. Die Ukrainer können die Krim mit HIMARS treffen. Mein Gefühl ist also, dass die Ukraine im Januar in der Lage sein wird, die letzte Phase des Krieges zu beginnen, nämlich die Befreiung der Krim. Die nächsten zwei, zweieinhalb Monate wird es sehr schwere Kämpfe um Mariupol geben, vor allem um das Gebiet nördlich der Krim. Aber im Januar werden sie bereit sein, die letzte Phase zu beginnen. Ich glaube, dass die Krim im Sommer befreit und die Ukraine die totale Kontrolle über ihr gesamtes Territorium wiederhergestellt haben wird.

Was denken Sie über deutsche Waffenlieferungen? Reichen diese aus oder muss aus Deutschland noch mehr kommen?

Deutschland bekommt für das, was es tut, keine Anerkennung. Deutschland ist der drittgrößte Bereitsteller von Waffen, Munition und Ausrüstung. Abgesehen davon: Ja, natürlich sollte Deutschland mehr tun. Die Priorität, die die Ukraine hat, ist die Luft- und Raketenabwehr, um unschuldige Menschen zu schützen. Auch brauchen sie Langstreckenraketen, die die Quelle der russischen Angriffe treffen könnten. Und sie brauchen wirklich Panzer. Fahrzeuge mit Ketten. Damit ist es viel einfacher, sich im Winter zu bewegen. Das sind die Dinge, die der Ukraine helfen würden, den Sieg viel schneller zu erreichen.

Wie beurteilen Sie die Bereitschaft der Amerikaner, die Ukraine weiterhin so stark zu unterstützen?

Noch vor ein paar Monaten war ich ein wenig besorgt. Ich hörte die Republikaner sagen: "Kein Blankoscheck, wir müssen die Hilfen stoppen, wir haben mit anderen Problemen zu kämpfen." Ich war enttäuscht. Glücklicherweise haben nur sehr wenige Leute, die solche Dinge gesagt haben, die Zwischenwahlen überlebt. Ich bin mir jetzt sicher: Mehr als 70 Prozent der Amerikaner sind für die weitere Unterstützung der Ukraine. Ähnlich wie in Deutschland. Zudem sind die Botschaften, die ich aus Washington, aber auch aus Berlin und London höre, dass die Unterstützung weitergehen wird.

Mit Ben Hodges sprach Vivian Bahlmann

Quelle: ntv.de

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