Politik

"Zeit, die Leute auszuwechseln" Ukrainerinnen protestieren gegen unbefristeten Kriegsdienst ihrer Männer

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Solche Demonstrationen sind zwar verboten, doch in der Ukraine wächst der Unmut über den unbefristeten Wehrdienst. Dagegen protestieren Antonina Danylewytsch (M.) und andere Frauen Mitte November in Kiew.

Solche Demonstrationen sind zwar verboten, doch in der Ukraine wächst der Unmut über den unbefristeten Wehrdienst. Dagegen protestieren Antonina Danylewytsch (M.) und andere Frauen Mitte November in Kiew.

(Foto: REUTERS)

Olexandr ist eigentlich Hochschuldozent. Seit mehr als anderthalb Jahren kämpft er fast ununterbrochen an der Front gegen die russische Invasion. Die Soldaten seien erschöpft, sagt seine Frau. Wie Tausende andere in der Ukraine setzt sie sich für einen befristeten Wehrdienst ein. Derweil versucht Kiew, die Armee zu stärken.

Als Antonina Danylewytschs Ehemann im März 2022 kurz nach Kriegsbeginn in die ukrainische Armee eintrat, reihte er sich ein in lange Schlangen vor dem Einberufungsbüro. In Scharen meldeten sich Männer, um ihr Land gegen die russischen Angreifer zu verteidigen. Heute gebe es keine langen Schlangen mehr, sagt Danylewitsch. Die 43-jährige Personalmanagerin gab damals ihren Segen, als ihr Mann Olexandr mit Zehntausenden in den Krieg zog. Heute kommt sie damit nur schwer klar. Seit seiner Einberufung hatte Olexandr gerade einmal 25 Tage Heimaturlaub. Die beiden Kinder wachsen ohne Vater auf.

Ein Ende des Krieges ist nicht abzusehen. Er zehrt an den Menschen - an den Soldaten, an ihren Familien und Freunden. Und er fordert immer höheren Tribut. "Wir wollen, dass die Ukraine gewinnt", sagt Antonina Danylewytsch in ihrem Haus in der Hauptstadt Kiew. "Aber nicht durch die Anstrengungen immer nur derselben Leute." Die Soldaten müssten ersetzt werden, sie brauchten auch Ruhe, erklärt sie. "Aber aus irgendeinem Grund verstehen das andere nicht." Auch die Frauen an der Heimatfront hätten stärker werden müssen, fügt sie hinzu. "Aber um welchen Preis sind wir stärker geworden?"

Antonina sitzt in ihrer Küche in Kiew. Ihr Mann hatte seit Kriegsbeginn 25 Tage Heimaturlaub, berichtet sie.

Antonina sitzt in ihrer Küche in Kiew. Ihr Mann hatte seit Kriegsbeginn 25 Tage Heimaturlaub, berichtet sie.

(Foto: REUTERS)

Ihr Mann Olexandr arbeitete als Dozent an der Universität. Kampferfahrung hatte er nicht, als er sich zum Militär meldete. Heute ist er Zugführer bei der vierten Panzerbrigade. Seine 14-jährige Tochter vermisst ihren Vater schmerzlich. Die Hochzeit seines Sohnes in diesem Jahr verfolgte Olexandr auf dem Handy per Videoanruf an der Front - in Bachmut, jener erbittert umkämpften und zerstörten Stadt im Osten der Ukraine. Im Februar sind es zwei Jahre, dass Russland seine Invasion begonnen hat. Wie viele andere muss sich auch Antoninas Familie damit auseinandersetzen, dass der Krieg noch lange dauern wird - viel länger als sie gehofft hatten. Manch einer räumt inzwischen ein, dass es keine Garantie für einen Sieg gibt.

Trotz Verbots zeigt sich Protest gegen unbefristeten Militärdienst

Im Herbst hat Antonina Danylewytsch eine Petition an Präsident Wolodymyr Selenskyj unterzeichnet, in der ein befristeter Militärdienst gefordert wird. Rund 25.000 Menschen unterschrieben und verlangen, dass die Soldaten einen klaren Zeitplan für ihre Entlassung aus dem Militärdienst erhalten. Es gab auch zwei Demonstrationen im Zentrum Kiews, an denen 50 bis 100 Menschen teilnahmen. Das zu Beginn des Krieges verhängte Kriegsrecht verbietet öffentliche Kundgebungen. Und doch gibt es sie. Vor einem Jahr, als die ukrainischen Soldaten die russischen Truppen vor Kiew zurückdrängten und gar Teile des Nordostens und Südens zurückeroberten, wären solche Proteste undenkbar gewesen.

Vor einem Jahr erreichte die Kampfmoral des ganzen Volkes ihren Höhepunkt. Heute aber hat die im Sommer begonnene Gegenoffensive keinen Durchbruch gebracht. Der Winter beginnt. Russland verstärkt seine Drohnen- und Raketenangriffe auf die Strom- und Wärmeversorgung. Ukrainische und russische Soldaten stehen einander im Stellungskampf gegenüber. Die Frontlinien verändern sich kaum. Und immer lauter wird die Frage, ob die dringend benötigte Militärhilfe aus dem Ausland so zügig und so umfänglich geleistet wird wie bislang. Die Ukraine brauchte Waffen im Wert von etlichen Milliarden Dollar von den USA und anderen Verbündeten, um ihre Kriegsanstrengungen aufrechtzuerhalten. Nun gehen die Vorräte etwa an Artilleriegranaten zur Neige, und das Ausland hält sich bei der Hilfe eher zurück. Nicht nur, weil der sichtbare militärische Erfolg der Ukraine ausbleibt, sondern auch weil zum Beispiel in den USA 2024 ein neuer Präsident gewählt wird.

Zu solchen äußeren Faktoren kommen für die Regierung in Kiew innere hinzu. Sie steht vor der schwierigen Entscheidung, einerseits genügend Rekruten einzuberufen, um sich der weitaus größeren russischen Armee entgegenzustemmen, und andererseits genügend Arbeitskräfte bereitzustellen, um die Wirtschaft in Gang zu halten. Die Mobilmachung betrifft nur Männer im Alter von 27 bis 60 Jahren. Wer zwischen 18 und 26 Jahre alt ist, kann nicht einberufen werden, sich aber freiwillig melden. Nach eigenen Angaben hat die Ukraine eine Million Menschen unter Waffen stehen. Männern im wehrfähigen Alter ist es verboten, ins Ausland zu gehen.

Einberufungspapiere in der U-Bahn übergeben

Das Programm zur Mobilmachung ist Staatsgeheimnis, ebenso die Zahl der auf den Schlachtfeldern getöteten und verletzten Soldaten. Die ukrainische Militärführung will verhindern, dass es im Abnutzungskrieg zum Patt kommt, das letztlich Russland nutzen würde. Daher konzentriert sich ihr in diesem Monat vorgelegter Plan darauf, die Fähigkeiten in den Bereichen Luftwaffe, elektronische Kriegsführung, Drohnen, Artillerieabwehr und Minenräumung zu stärken.

Bilder von Olexandr und Antonina. Die Hochzeit seines Sohnes kriegt er nur aus der Ferne mit.

Bilder von Olexandr und Antonina. Die Hochzeit seines Sohnes kriegt er nur aus der Ferne mit.

(Foto: REUTERS)

Zugleich verweist sie auf die begrenzten Kapazitäten bei der Ausbildung der Soldaten und sieht Gesetzeslücken, durch die man sich der Mobilmachung entziehen könne. Daher sollen ein einheitliches Register der Wehrpflichtigen eingeführt und die Kategorien für die Einberufung erweitert werden. Die Rekrutierung ist ein Problem. Sie findet weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Männer werden auf offener Straße, in der U-Bahn oder an Kontrollstellen angehalten und bekommen ihre Einberufungspapiere ausgehändigt. Sie werden angewiesen, sich bei den Rekrutierungszentren zu melden. In den sozialen Medien tauchten Videos auf, die zeigten, wie Männer regelrecht weggeschleppt und bedroht wurden. Ein öffentlicher Aufschrei folgte. Empörung gibt es auch, weil immer wieder Fälle bekanntwerden, in denen sich Wehrpflichtige durch Bestechung dem Dienst an der Waffe entziehen.

Korruption in Rekrutierungsstellen offenbar weit verbreitet

Selenskyj sah sich gezwungen, im Sommer alle Leiter der regionalen Rekrutierungsbüros zu entlassen. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass ein Strafverfahren gegen Mitarbeiter der Wehrdienststellen angekündigt wird, weil sie Geld für gefälschte Dokumente angenommen haben, damit sich Männer der Mobilmachung entziehen können. Die Bestechungssummen reichen von 500 bis 10.000 Dollar. Die Regierung arbeitet zudem an einem Gesetz, das unterbinden soll, dass Personen über 30 Jahre sich durch ein Studium dem Kriegsdienst entziehen können. Einem Abgeordneten zufolge plant das Parlament auch bis Ende des Jahres den Entwurf eines Gesetzes, das das Prozedere bei der Einbeziehung in und Entlassung aus dem Militärdienst verbessern soll.

Am Ufer der Theiß, die vom Südwesten der Ukraine nach Rumänien fließt, haben Grenzschützer, die sich sonst um Zigarettenschmuggler kümmern, rund 6000 Menschen festgenommen, die vor dem Kriegseinsatz fliehen wollten. Ein Grenzposten berichtet, dass mindestens 19 Menschen dabei ertrunken sind. "Sie starben vergeblich. Sie starben im Fluss, obwohl sie zu den Kriegsanstrengungen hätten beitragen können."

Vertrauen in die Regierung nimmt ab

Mehr zum Thema

All dies führt dazu, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung abnimmt. Einige Soziologen machen eine zunehmend düstere Stimmung aus. Anton Hruschezkji, der Geschäftsführer des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew, sagt, dass das Vertrauen in die Regierung von 74 Prozent im Jahr 2022 auf 39 Prozent gesunken ist. Beim Parlament ging es von 58 auf 21 Prozent zurück. "Wir hatten gehofft, dass wir in diesem Herbst in einer besseren Lage gewesen wären als wir es sind." Nun steht der Winter bevor.

Antonina Danylewytsch bereitet ihr Heim auf die Kälte vor. "Ich bin deprimiert. Ich kenne die Herausforderungen des Winters. Und wenn es starken Beschuss gibt, wenn Strom und Heizung ausfallen, dann muss ich damit allein klarkommen." Anderen Frauen geht es genauso. Im Sommer stieß Danylewytsch auf Telegram auf eine Gruppe von mittlerweile fast 3000 Gleichgesinnten, die für das Recht von Kriegsveteranen auf Demobilmachung eintreten. Meist sind es Ehefrauen, Mütter, Familienangehörige von Soldaten. "Viele der Frauen nehmen Schlaf- und Beruhigungsmittel", berichtet Danylewytsch. Resignation greife um sich. Aber auch Unmut wird laut. Danylewytschs Gruppe demonstrierte Ende Oktober erstmals auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew für eine Befristung des Wehrdienstes. Anschließend schrieben sie einen Brief an Selenskyj. Die Polizei schritt nicht ein. Mitte November gab es eine weitere Kundgebung. Eine Demonstrantin hielt ein Schild hoch, auf dem stand: "Mein Mann und mein Vater haben anderen die Zeit gegeben, sich vorzubereiten. Es ist an der Zeit, die ersten Leute auszuwechseln!"

Quelle: ntv.de, Olena Harmash und Tom Balmforth, Reuters

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen