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Von 24 Stunden keine Rede "Entfernen Sie sich von Hamas-Terroristen"

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Laut UN fordert Israel die Zivilbevölkerung auf, Gaza-Stadt binnen 24 Stunden zu räumen. Doch eine solche Frist scheint es nicht zu geben: Die israelische Armee betont, ihr sei klar, dass die Evakuierung Zeit in Anspruch nehme. Die Hamas ruft die Einwohner zum Bleiben auf. Dennoch sind die Ersten unterwegs.

Im Kampf gegen die Hamas steht Israel vor einem mehrfachen Dilemma: Wie kann die Terrororganisation zerschlagen werden, ohne dass massenhaft palästinensische Zivilisten ums Leben kommen? Wie können die Geiseln befreit werden, ohne das Leben dieser Menschen aufs Spiel zu setzen? Und nicht zuletzt: Welches Vorgehen riskiert möglichst wenig Opfer in den Reihen der israelischen Armee?

Wie bei jedem Dilemma gibt es hier keine einfachen Lösungen. Bei Luftangriffen auf Gaza dürften bereits zahlreiche palästinensische Zivilisten ums Leben gekommen sein. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen wurden durch Raketenbeschuss mindestens 1537 Menschen getötet und 6612 verletzt. Auch wenn die Quelle nicht vertrauenswürdig ist, da das Gesundheitsministerium im Gazastreifen wie der gesamte Landstrich von der Hamas kontrolliert wird: Zivile Opfer hat es im Gazastreifen zweifellos gegeben. Der Direktor der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Ghebreyesus, schrieb bei X, dem früheren Twitter, die Krankenhäuser stünden kurz vor dem Zusammenbruch.

Gleichzeitig ist klar, dass es für Israel keine Option ist, einfach nichts zu tun. "Die Armee muss jetzt die Stellungen der Hamas so weit zerstören, dass sie uns nicht mehr gefährden können", sagte die Deutsch-Israelin Jenny Havemann in einem Interview mit ntv.de und dürfte damit die Erwartungen vieler Menschen im Land widergeben "Alles andere würde noch mehr Opfer bedeuten." Seit Samstag wurden nach Angaben der IDF, der israelischen Armee, mehr als 1300 Israelis bei Angriffen der Hamas getötet, davon 258 Soldaten. Rund 150 Menschen wurden von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt. Die Al-Kassam-Brigaden, der militärische Arm der Hamas, behauptet, bei israelischen Luftangriffen seien 13 Geiseln getötet worden.

UN sprechen von 24-Stunden-Frist

Für Aufregung sorgte am Freitag eine Mitteilung der Vereinten Nationen. Stéphane Dujarric, der Sprecher von UN-Generalsekretär António Guterres, sagte, die israelische Armee habe die Vereinten Nationen kurz vor Mitternacht darüber informiert, dass Gaza-Stadt binnen 24 Stunden evakuiert werden sollte. "Die Vereinten Nationen halten es für unmöglich, dass eine solche Bewegung ohne verheerende humanitäre Folgen stattfinden kann", sagte Dujarric der US-Nachrichtenseite Axios.

Den Kontakt mit den Vereinten Nationen bestätigte IDF-Sprecher Jonathan Conricus; nicht jedoch die Frist von 24 Stunden. Conricus zufolge wurden erst die UN informiert, dann die Einwohner von Gaza-Stadt: Am Freitagmorgen rief die israelische Armee die Zivilisten in Flugblättern, die über Gaza-Stadt abgeworfen wurden, auf, ihre Wohnungen zu verlassen und sich "wegen ihrer eigenen Sicherheit" auf die südliche Seite des Wadi Gaza zu begeben. Dabei handelt es sich um ein Flussbett, das im Gazastreifen zwischen den Ortschaften Al-Zahra und Nuseirat verläuft, etwa zehn bis zwanzig Kilometer südlich von Gaza-Stadt. Conricus erläuterte, der Fluss sei eine Markierung, die man auch ohne Karte leicht erkennen könne.

"Wir wissen, dass dies dauern wird"

Auf dem Flugblatt, dessen Text die israelische Armee auf Englisch veröffentlichte, ist von einer 24-stündigen Frist keine Rede. Auch in seinem morgendlichen Pressebriefing nannte Conricus keine Frist. "Wir wissen, dass dies eine Zeit dauern wird", sagte er, "dies ist kein einfacher Prozess". Ziel des Aufrufs sei, Leben zu retten. Die israelische Armee halte Verbindung zu den Vereinten Nationen, informiere die UN-Behörden und lasse sich zugleich von diesen über die humanitäre Situation in Gaza informieren, so Conricus weiter.

Auf Flugblätter rief die israelische Armee die Einwohner von Gaza-Stadt auf, den Norden des Gazastreifens zu verlassen.

Auf Flugblätter rief die israelische Armee die Einwohner von Gaza-Stadt auf, den Norden des Gazastreifens zu verlassen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Ähnlich äußerte sich ein anderer Sprecher der israelischen Armee. Daniel Hagari sagte der BBC, das israelische Militär sei sich darüber im Klaren, dass die Evakuierung von 1,1 Millionen Menschen aus dem nördlichen Gazastreifen einige Zeit in Anspruch nehmen werde. "Dies ist ein Kriegsgebiet, wir versuchen, ihnen Zeit zu geben und unternehmen große Anstrengungen, und wir verstehen, dass es nicht 24 Stunden dauern wird", sagte er auf eine entsprechende Frage der BBC.

Armee will ihre Operationen "in den folgenden Tagen intensivieren"

"Sie werden erst nach Gaza-Stadt zurückkehren können, wenn eine weitere Ankündigung erfolgt", heißt es in der Mitteilung, die von der Armee auch auf Arabisch verbreitet wurde. Zudem solle man sich nicht in der Nähe des Sicherheitszauns zwischen dem Gazastreifen und Israel aufhalten. "Zivilisten von Gaza-Stadt, gehen Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit und der Sicherheit Ihrer Familien nach Süden und entfernen Sie sich von Hamas-Terroristen, die Sie als menschliche Schutzschilde benutzen", so die israelische Armee weiter. "In den folgenden Tagen wird die IDF weiterhin ihre Aktivitäten in Gaza-Stadt weiter intensivieren und umfangreiche Anstrengungen unternehmen, um zu verhindern, dass Zivilisten Schaden nehmen."

"Entfernen Sie sich von Hamas-Terroristen, die Sie als menschliche Schutzschilde benutzen", heißt es auf den Flugblättern.

"Entfernen Sie sich von Hamas-Terroristen, die Sie als menschliche Schutzschilde benutzen", heißt es auf den Flugblättern.

(Foto: picture alliance/dpa)

Schon bisher warnte die israelische Armee, bevor sie Häuser in Gaza attackierte, wie Oberst Markus Reisner erläutert: Zunächst erhalten die Bewohner eine Kurznachricht aufs Handy, dann folgt der Abwurf einer Betonbombe, die nicht explodiert. "Erst dann, nach einer Zeitspanne von 10 bis 45 Minuten, kommt es zum Einsatz der Präzisionsmunition."

Hamas ruft zum Bleiben auf

Die Frage ist, ob es überhaupt möglich ist, dass alle Einwohner Gaza-Stadt verlassen. Die Stadt hat mehr als eine Million Einwohner, im Gaza-Streifen leben insgesamt 2,3 Millionen Menschen.

Die Hamas forderte ihrerseits die Einwohner von Gaza-Stadt auf, ihre Häuser nicht zu verlassen. Den Aufruf der israelischen Armee nannte sie laut CNN in einer Mitteilung "psychologische Kriegsführung" und "falsche Propaganda" mit dem Ziel, "Verwirrung unter den Bürgern zu stiften und die Stabilität unserer inneren Front zu untergraben". Auch Mitarbeiter von "internationalen Institutionen" würden ihren Standort nicht verlassen, so die Hamas. Das ist allerdings falsch: Die für die Versorgung von palästinensischen Flüchtlingen zuständige UN-Organisation UNRWA teilte mit, sie habe ihre Mitarbeiter in den Süden gebracht.

Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur will die Hamas die Einwohner von Gaza-Stadt daran hindern, nach Süden zu fliehen. Das scheint jedoch nur begrenzt zu gelingen: Bilder zeigen, wie Palästinenser die Stadt in Autos und auf Pick-ups verlassen.

Flucht in den Süden: Einige Palästinenser sind offenbar dabei, Gaza-Stadt zu verlassen.

Flucht in den Süden: Einige Palästinenser sind offenbar dabei, Gaza-Stadt zu verlassen.

(Foto: picture alliance/dpa)

"Das wird sehr schwierig zu machen sein"

Unterdessen weist der langjährige Nahost-Korrespondent der BBC, Jeremy Bowen, darauf hin, dass es einen derartigen Aufruf der israelischen Armee in jüngerer Zeit nicht gegeben habe. Frühere Bodenoffensiven in Gaza hätten begrenzte Gebiete betroffen, damals habe es Warnungen gegeben, sich lediglich "ein oder zwei Meilen" von einer bestimmten Stelle zu entfernen. Er hält die Einschätzung der UN für richtig: "Das wird sehr hart, sehr schwierig zu machen sein."

Der israelische UN-Botschafter Gilad Erdan nannte die Reaktion der Vereinten Nationen eine "Schande". Die UN würden seit Jahren ignorieren, dass die Hamas sich bewaffne und Zivilisten als Schutzschilde missbrauche, schrieb er auf X. Statt Israel nach dem Hamas-Massaker beizustehen, "wagen sie es nun, uns Vorträge zu halten, wenn Israel versucht, den Schaden für die Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten". Die UN sollten sich auf die Rückkehr der Geiseln konzentrieren, das sei die dringendste humanitäre Krise.

Quelle: ntv.de

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