Trophäen und Schutzschilde? Was mit den Hamas-Geiseln passieren könnte


Noa Argamani wurde von Hamas-Terroristen beim Nova-Festival in Israel als Geisel genommen. Ein Video, auf dem die Entführung von ihr und ihrem Freund zu sehen ist, kursierte bereits am Samstag auf Social Media. Von den beiden fehlt jede Spur. Die insgesamt über 100 Entführten sollen an verschiedenen Orten des Gazastreifens und teilweise unterirdisch versteckt sein.
(Foto: AP)
Bei ihrem Großangriff auf Israel entführt die Hamas mehr als 100 Menschen und verschleppt sie in den Gazastreifen. Was genau die Islamisten mit ihnen vorhaben, liegt im Dunkeln. Klar ist jedoch: Eine Rettungsmission ist nicht nur schwierig, sondern könnte auch den Tod anderer Verschleppter bedeuten.
Die Szenen der Entführungen Dutzender Israelis haben sich weltweit ins Bewusstsein gebrannt. So zeigt ein Video in den sozialen Medien etwa die 85-jährige Israelin Yaffa Adar, wie sie von Mitgliedern des Terrornetzwerks Hamas in einem Golfcart durch die Straßen des Gazastreifens gefahren wird. Auf dem Sitz hinter ihr reißt ein Terrorist sein Maschinengewehr in die Luft, die Menschenmenge um sie herum jubelt. Es wirkt, als sei die verschleppte Adar eine Trophäe für die jungen Männer um sie herum.
Im Internet kursieren viele solcher Aufnahmen. Einige der Verschleppten haben Platzwunden und andere Verletzungen, andere sind ganz offensichtlich bewusstlos. Die radikalislamische Hamas hat bei ihrem Großangriff auf Israel mindestens 100 Menschen, darunter Frauen, Kinder und Babys, in ihre Gewalt gebracht und anschließend in den Gazastreifen verschleppt. Die verwackelten Handyvideos sind das Letzte, was ihre Angehörigen von ihnen sahen oder hörten. Kontakt zu ihnen gibt es nicht, die raren Informationen sind mehr als unsicher. Und während Experten rätseln, was die Hamas mit ihren Geiseln vorhat, könnte diesen die Zeit davonlaufen.
Für die Angehörigen ist diese Ungewissheit zermürbend. Wo ihre Hilflosigkeit den Terroristen in die Karten spielen dürfte, baut sie auf die israelische Regierung Druck auf. Viele Familien und Freunde der Verschleppten wandten sich an die Medien und kritisierten Premierminister Benjamin Netanjahu für den Mangel an zuverlässigen Informationen. Am Mittwoch verkündeten die israelischen Verteidigungskräfte schließlich, die Familien von 97 Entführten informiert zu haben. Man sei sich der Unsicherheit vieler Familien bewusst, erklärte Daniel Hagari, Sprecher der israelischen Streitkräfte. "Wir bewegen uns im Spannungsfeld zwischen Verlässlichkeit, Schnelligkeit und unserem Bedürfnis nach Gewissheit und Genauigkeit, bevor wir die Nachricht überbringen, die für jede Familie die schwerste ist."
Spezialeinheit für Geiselbefreiung
Die Gewissheit dürfte dabei das größte Problem sein. "Wir wissen nicht, wo die Israelis untergebracht sind", gestand Yaakov Admidor, der ehemalige nationale Sicherheitsberater von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Anfang der Woche. Die Hamas selbst erklärte auf ihrem Telegram-Kanal, "Dutzende von Geiseln" an "sicheren Orten und in den Tunneln des Widerstands" versteckt zu haben. Das hilft Israel laut Experten allerdings nur bedingt, da das Gebiet des Gazastreifens für die israelischen Streitkräfte trotz ständiger Luftüberwachung undurchschaubar ist. Zudem sollen die Geiseln der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zufolge über das ganze Gebiet verteilt worden sein.
Das macht eine militärische Befreiungsaktion in absehbarer Zeit nahezu unmöglich. So gibt es in Israel zwar durchaus Bestrebungen, die auf Geiselbefreiung spezialisierte Einheit Sayeret Matkal einzusetzen, wie der "Telegraph" berichtete. Der ehemalige Mossad-Agent Avner Avraham geht im Interview davon aus, dass die Aufenthaltsorte der Geiseln wegen ihrer hohen Anzahl "zwangsläufig durchsickern" werden. Allerdings benötige ein Einsatz der Spezialtruppe trotzdem lange Vorlaufzeit und wäre in diesem Fall äußerst riskant. Denn selbst wenn es gelänge, Geiseln aus einem Versteck erfolgreich zu befreien, wäre das Risiko groß, dass die Hamas aus Rache Geiseln an anderen Orten tötet.
Damit bleibt nur eine einzige Möglichkeit, die Entführten zurückzuholen, wie der Verhandlungsexperte Matthias Schranner im ZDF erklärte. "Man muss sehr schnell in die Gespräche kommen." Über diplomatische Kanäle gelte es nun zügig herauszufinden, was die Terroristen mit den Entführten vorhaben, sagte Schranner. "Es muss ja einen Grund haben, warum die Hamas die Geiseln nicht erschossen, sondern mitgenommen haben."
Schleppende Verhandlungen
Genau diesen Plan verfolgen Länder wie Katar und die Türkei, die einen Draht zur Hamas haben. Zudem haben Washington und Berlin erklärt, die Geiselbefreiung zur Priorität zu machen - auch in eigener Angelegenheit. Denn unter den Entführten sollen sich auch mindestens fünf deutsche und einige US-amerikanische Staatsbürger befinden. Bundeskanzler Olaf Scholz bekräftigte "intensive" Bemühungen und den Austausch mit Israel, US-Präsident Joe Biden wies sein Team an, Geheimdienstinformationen mit Israel zu teilen.
Ein Hoffnungsschimmer kam am Montag zunächst aus Katar. Offenbar forderten Hamas-Mitglieder bei einer Verhandlung die Freilassung von 36 inhaftierten Palästinensern gegen die Freilassung von älteren entführten Israelinnen. Nur wenig später folgte dann allerdings die Rolle rückwärts, der Leiter des politischen Büros der Hamas erklärte, dass ein Gefangenenaustausch bis zum Ende der Kämpfe ausgeschlossen sei.
Gerhard Conrad, ehemaliger Nahost-Experte des Bundesnachrichtendienstes, geht davon aus, dass sich diese Haltung der Islamisten ändern wird. Demnach werden sie versuchen, die Geiseln "eiskalt als Verhandlungsmasse" einzusetzen, sagte der Ex-Agent in der "Wirtschaftswoche". Doppelte Staatsbürgerschaften seien dabei so etwas wie "ein Lottogewinn" für die Entführer. Möglich sei, dass sie damit die EU oder Deutschland erpressen, Hilfsgelder weiterhin zu zahlen.
Geiseln als menschliche Schutzschilde?
Vor allem aber ginge es darum, palästinensische Gefangene in Israel freizupressen - ähnlich wie im Fall Gilad Shalit. Der israelische Soldat wurde 2011 im Tausch für mehr als 1000 Palästinenser freigelassen. "Das ist sozusagen der Maßstab", sagte Conrad. Der Ex-Agent nimmt an, dass die Hamas speziell nach Soldaten unter den Gefangenen suchen werde. Tatsächlich gibt es ein Indiz, das für einen solchen Plan der Terroristen spricht. So sollen Hamas-Mitglieder einen Anruf von Angehörigen der Geiseln angenommen haben, wie der "Telegraph" am Donnerstag berichtete. Dabei sollen die Islamisten lediglich vier Wörter in den Hörer gesagt haben: "Entführung. Gaza. Gilad Shalit."
Dass es tatsächlich zu diesem Deal kommen würde, ist jedoch äußerst unwahrscheinlich. Israel müsste seine Gefängnisse damit auf einen Schlag leeren und alle Hamas-Mitglieder freilassen, erklärte Conrad in der "Jüdischen Allgemeinen" (JA). "Das wäre ein halsbrecherischer politischer Akt, dessen Kosten den Nutzen bei Weitem überschreiten würden." Zumal Netanjahu bereits sehr deutlich gemacht hat, dass Verhandlungen nach den Grausamkeiten der Hamas bei ihrem überraschenden Angriff am vergangenen Samstag vorerst keine Rolle spielen. "Wir werden alle Orte, an denen die Hamas organisiert ist und sich versteckt, in Trümmerinseln verwandeln", sagte er in einer Ansprache. Israel werde Rache für diesen "schwarzen Tag" nehmen.
Die israelische Armee geht zudem davon aus, dass die Geiseln in erster Linie für einen anderen Zweck eingesetzt werden: als menschliche Schutzschilde. Zum einen erschwert diese Taktik den israelischen Verteidigungskräften Angriffe auf das Gebiet des Gazastreifens. So behauptete die Hamas bereits zweimal, Geiseln seien bei israelischen Angriffen getötet worden. Zum anderen bringt sie sowohl die Armee als auch die israelische Regierung in ein Dilemma, wenn das Leben der Geiseln gezielt als Druckmittel eingesetzt wird. So kündigte die Hamas bereits an, für jeden Angriff, bei dem Zivilisten in Gaza ums Leben kommen, Geiseln zu töten. Bereits an Grausamkeit kaum zu übertreffen, sollen die Exekutionen live im Internet übertragen werden. Vermittelt wird: Wenn Israel angreift, ist es für den Tod der Geiseln selbst verantwortlich.
Chaos bei der Hamas
Nun scheint das Vorgehen der Hamas bei ihren Geiseln zwar zweifellos brutal, jedoch keineswegs stringent, wenn nicht sogar widersprüchlich. Ein Grund dafür könnten laut einem Bericht der "Times" interne Streitigkeiten der Terrorgruppe sein. So halten es einige Mitglieder mittlerweile offenbar für einen Fehler, dass auch Frauen und Kinder entführt worden sind. Sie fürchten, dass dies einen härteren israelischen Angriff auf Gaza legitimieren könnte.
Auch soll die Organisation der Geiselnahme chaotisch verlaufen. Demnach wüsste nicht einmal die Hamas selbst, wie viele Menschen sie verschleppt und versteckt hat. "Man hat da offenbar gegriffen, wen man auf die Schnelle greifen konnte", fasst Conrad zusammen. "Möglicherweise weiß die Hamas selbst noch nicht, was sie mit den Menschen machen wird."
Damit könnte sich die Leidenszeit der verschleppten Männer, Frauen, Kinder und Babys in die Länge ziehen. So könnte es auch der Faktor Zeit sein, der den Geiseln zum Verhängnis wird. Die humanitäre Lage im Gazastreifen wird nach der Abriegelung durch Israel von Tag zu Tag katastrophaler. Es fehlt an Lebensmitteln, Trinkwasser und Strom - auch in den Kliniken. Viele der Geiseln sind offensichtlich verletzt und auf die Behandlung im Krankenhaus angewiesen.
Mögliche Gewaltexzesse und fehlende Medikamente
Andere brauchen dringend Medikamente, wie etwa der 22-jährige Omer Wenkert, der auf einem Musikfestival entführt wurde. Auf einem Foto liegt er halbnackt und auf dem Rücken gefesselt zwischen Sandsäcken am Boden. Laut seiner Familie leidet er an einer Darmentzündung - ohne seine täglichen Medikamente könnte es zu ernsthaften Komplikationen kommen. Die Hamas lehnen es jedoch ab, ihm seine Medikamente auszuhändigen - trotz Appell vom Roten Kreuz.
Der Fall von Omer Wenkert gibt Aufschluss darüber, wie die Hamas ihre Geiseln behandelt, wenn es auch bisher sonst nicht viele Informationen darüber gibt. Mit Blick auf die Vergangenheit seien auch Gewaltexzesse nicht auszuschließen - "vor allem, sollte sich die militärische Lage zulasten der Hamas verschärfen", sagte Conrad der JA.
Auch die 85-jährige Yaffa Adar benötigt täglich Medikamente gegen Bluthochdruck und Schmerzmittel. "Sie ist krank", berichtete ihre Enkelin Adva Adar. "Wir wissen, dass sie ohne ihre Medikamente große Schmerzen hat. Aber wir wissen nicht, wie lange sie ohne ihre Medizin überleben kann."
Quelle: ntv.de