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Gefahr lauert auf allen Seiten Israel geht mit Bodenoffensive großes Risiko ein

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300.000 Reservisten der israelischen Armee werden für die Offensive eingezogen.

300.000 Reservisten der israelischen Armee werden für die Offensive eingezogen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Israel steht eigenen Angaben zufolge kurz vor einem Bodenangriff auf den Gazastreifen. Warum dieser unvermeidbar erscheint und welche Risiken er für das eigene Militär birgt, erklärt ntv.de.

"Was in Gaza war, wird es nicht mehr geben": Mit diesen Worten kündigt der israelische Verteidigungsminister Joav Gallant am Morgen eine Bodenoffensive der israelischen Armee im Gazastreifen an. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel und der Ermordung von mehr als 1000 Menschen, antwortet das israelische Militär mit einem Bombenhagel auf den Gazastreifen. Ganze Stadtviertel werden binnen Stunden in Schutt und Asche gelegt - und das ist erst der Anfang. "Wir haben die Offensive aus der Luft begonnen, später werden wir auch vom Boden aus vorgehen."

Ein Bodenangriff bringt für die israelischen Streitkräfte allerdings ein enormes Sicherheitsrisiko - ist aber gleichzeitig unvermeidlich, wenn Israel seine erklärten Ziele erreichen will. Die Luftangriffe der Israelis sind zwar sehr effektiv, reichen aber nicht aus, um die Kontrolle über das Gebiet - und damit die Hamas - zu erlangen. "Luftstreitkräfte haben vor allem eine unterstützende Wirkung, aber sie können keinen beherrschenden Raum in Besitz nehmen oder einen wirklichen Effekt am Boden erzielen", erklärt der österreichische Oberst Markus Reisner ntv.de.

Mit den Luftangriffen zerstört Israel gezielt Häuser von Hamas-Terroristen und ihren Angehörigen, um sie zu töten. Diese Taktik ist keineswegs neu: Präzisionsbomben ermöglichen es der israelischen Armee, sehr gezielt einzelne Häuser in die Luft zu jagen. Seit Jahren dient diese Vorgehensweise als "Abschreckmaßnahme" gegen palästinensische Attentäter und deren Familien. Die Bomben treffen mit einer Genauigkeit von zwei bis drei Metern, verfehlen ihr Ziel also praktisch nie. Zu sehen ist das auch auf einem Video, das der israelische Präsident Benjamin Netanjahu am Mittwochvormittag auf X, vormals Twitter, gepostet hat - auch wenn das kein Beweis ist, dass nie etwas schiefgeht.

Hamas zwingt Zivilisten, in Häusern zu bleiben

Diesmal verfolgen die Luftangriffe laut Reisner allerdings noch ein weiteres Ziel: Zivilisten zur Flucht aus dem Gazastreifen zu zwingen, um bei einer folgenden Bodenoffensive möglichst viele zivile Opfer zu verhindern. Dafür haben die Israelis eine Taktik entwickelt: Zunächst verschicken sie mit einer Kurznachricht eine Warnung an die Handys der Einwohner, dann folgt unmittelbar vor dem Angriff der Abwurf einer Betonbombe. Diese zeigt das anvisierte Haus lediglich an, explodiert aber nicht. Die israelischen Streitkräfte nennt dieses Vorgehen "anklopfen", um Zivilisten zu schonen. "Erst dann, nach einer Zeitspanne von 10 bis 45 Minuten, kommt es zum Einsatz der Präzisionsmunition."

Dass trotzdem immer wieder Zivilisten getötet werden, liegt beispielsweise daran, dass die Explosion oft eine derart verheerende Wirkung hat, dass das ganze Haus in sich zusammenbricht oder ganze Häuserblöcke durch mehrere Bomben zerstört werden. Das lasse dann den Eindruck aufkommen, das sei ein Flächenbombardement, sagt Reisner. "Das stimmt aber so nicht." Stattdessen seien es mehrere Präzisionsbomben, die nebeneinander einschlagen.

Zum anderen würden Hamas-Kämpfer Zivilisten teilweise dazu zwingen, in den Häusern zu bleiben, um anschließend Bilder von getöteten und verwundeten Kindern und Frauen zu erzeugen. Diese werden dann in den sozialen Medien geteilt, um den Eindruck zu erwecken, Israel töte absichtlich Zivilisten und Palästinenser. Israel verurteilt seit Langem diese "menschlichen Schutzschilde".

Vormarsch beginnt wahrscheinlich in der Nacht

Die Luftangriffe sind aber nur der erste Schritt der israelischen Vorgehensweise. "Jede Offensive hat grundsätzlich drei Phasen", sagt Reisner. Derzeit befinde sich Israel in der Vorbereitungsphase, bei der die Armee durch die Angriffe versucht, gezielt Druck auszuüben. Zum einen auf die Hamas, aber zum anderen auf die Bevölkerung, mit der Absicht, dass sie sich von der Terrororganisation distanziert oder ihr die Unterstützung entzieht.

Gleichzeitig bereitet das israelische Militär die Offensive mit dem Aufmarsch von Landstreitkräften um den Gazastreifen herum vor. "Wenn das abgeschlossen ist und eine klare politische Entscheidung folgt, dann wird der Einmarsch beginnen", so Reisner. Das sei dann die entscheidende Phase. Die werde zunächst durch Spezialkräfte oder Pionierkräfte vorbereitet, die sich zum Beispiel über den Grenzzaun in den Gazastreifen hinein Zutritt verschaffen könnten. Anschließend beginne der Vormarsch. "Vermutlich in der Nacht, weil die Fähigkeiten der israelischen Armee hier besser sind, an mehreren Stellen gleichzeitig anzugreifen, um den Gegner zu überraschen." Bei Bedarf unterstützen Luft- oder Seestreitkräfte.

Israel habe für seine Operationsführung eine ganze Bandbreite an unterschiedlichen Waffensystemen zur Verfügung. Zum Beispiel die klassischen Kampfpanzer vom Typ Merkava, sowie Schützenpanzer, die Infanterie mitführen können, so Reisner. Gefahr droht der Armee im urbanen Gelände. Der Gazastreifen ist ein sehr dicht besiedeltes Gebiet, die Armee erwartet dort ein Straßen- und Häuserkampf. Wie blutig und mühsam ein Bodenangriff auf so einem Gelände ist, konnte man zuletzt in der Ukraine in der Schlacht um Mariupol und Bachmut beobachten. Die Defensive ist den Angreifern gegenüber im Vorteil, weil sie sich in Häusern, auf Dächern oder in Kellern sowie Trümmern verstecken und von dort aus angreifen kann.

"Man sagt, dass der Angreifer eine Überlegenheit gegenüber dem Verteidiger von vier zu eins braucht", sagt Reisner. Im urbanen Raum steigere sich dieses Verhältnis sogar noch bis acht zu eins. "Das heißt, um einen einzelnen Schützen aus einem Haus herauszubekommen, braucht man acht Infanteristen." Das erklärt auch, warum 300.000 Reservisten einberufen wurden.

Gefahr eines Flächenbrands steigt

Auf die israelische Armee kommt noch eine weitere Herausforderung zu: Unter der Erde liegt ein weitverzweigtes Netz von Tunneln. Die Gänge wurden unter der 14 Kilometer langen Grenze zwischen Gaza und dem ägyptischen Sinai gegraben, um Kämpfer, Waffen und Waren zu schmuggeln. Nachdem viele zerstört wurden, hat die Hamas seit 2014 auch innerhalb des Gazastreifens Tunnel angelegt, teilweise in bis zu 40 Metern Tiefe.

Die israelische Armee überblickt nur Teile des Tunnelsystems, das nicht nur als Versteck für Kämpfer, sondern auch für Raketenwerferbatterien dient, sagt Colin Clarke, Forschungsleiter am New Yorker Thinktank Soufan Center. Die Hamas hingegen kenne ihre Tunnel in- und auswendig. "Einige davon sind wahrscheinlich mit Sprengfallen versehen. Die Vorbereitung auf einen Kampf in einem solchen Gebiet würde umfassende Geheimdienstinformationen erfordern, die die Israelis vielleicht nicht haben."

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Deswegen seien die Faktoren Zeit und Information besonders wichtig, sagt Reisner: Je länger die Israelis warteten, desto länger könne sich die Hamas auf den Angriff vorbereiten. Je mehr die israelischen Soldaten über die Tunnel wissen, desto besser können sie mögliche Schwachstellen ausnutzen.

Das Problem, das dem Militärexperten zufolge aber alles andere überlagert, ist die Gefahr eines möglichen Flächenbrands. Die Terrororganisation Hisbollah bedroht bereits die Grenze im Südlibanon mit Beschuss. Die große Frage sei, was passiert, wenn diese in den Konflikt eintritt, so Reisner. "Dann besteht die Gefahr einer Übersättigung der Abwehrsysteme Israels, wodurch die USA möglicherweise gezwungen sind, zu reagieren." Eine Bedrohung gehe auch von Syrien aus, wo die iranischen Revolutionsgarden eigentlich an den Toren Jerusalems stehen. "Das ist eine sehr explosive Gemengelage."

Quelle: ntv.de

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