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Fünf weitere Jahre Warum Erdoğan schon wieder gewonnen hat

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In seiner Siegesrede machte Erdogan klar, dass er weiter auf Spaltung und Feindbilder setzt, nicht auf die Befriedung der Gesellschaft.

In seiner Siegesrede machte Erdogan klar, dass er weiter auf Spaltung und Feindbilder setzt, nicht auf die Befriedung der Gesellschaft.

(Foto: REUTERS)

Der türkische Präsident Erdoğan hat es geschafft, in einem unfairen Wahlkampf die Opposition zu dämonisieren. Trotz altbekannter Parolen und trotz aller Krisen im Land hat er wieder gesiegt. Wie geht es jetzt weiter?

Er hat es wieder geschafft. Trotz Wirtschaftskrise, trotz misslungenem Krisenmanagement nach den Erdbeben, trotz einer erstarkten Opposition: Recep Tayyip Erdoğan hat die Stichwahl am Sonntag gewonnen und wird die Türkei fünf weitere Jahre lenken. Das ist ein bitterer Schlag für Millionen von Türken, die so viel auf diese richtungsweisende Wahl gesetzt hatten.

Dabei hatte die Opposition noch nie eine bessere Chance gegen Erdoğan. Dass sie trotzdem wieder verloren hat, zeigt, wie stark die "Erdoganisierung" des Landes fortgeschritten ist. Erdoğans Sieg zeigt, dass mehr als die Hälfte der Türken in ihm eine religiös-nationalistische Leitfigur sieht, der alles verziehen wird.

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Kılıçdaroğlu war lange der Favorit

Dem vorläufigen Ergebnis zufolge holte der fromme Politiker 52 Prozent der Stimmen, das sind gut zwei Millionen mehr als sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der säkularen Mitte-Links-Partei CHP. Die Opposition, große Teile der Bevölkerung, aber auch Analysten und Journalisten: Alle lagen falsch.

Denn noch vor wenigen Wochen sahen die Meinungsumfragen Kılıçdaroğlu vorne - und diese Prognose fußte nicht auf unrealistischen Hoffnungen. Es gibt Gründe, warum die Menschen Erdoğan den Rücken hätten kehren können. Die Inflation der Lira ist eine Dauerbaustelle. Die Preise für Lebensmittel und Energie explodieren, viele Türken fehlt Geld in der Tasche. Hinzu kommt der Schock über die 50.000 Toten nach den schweren Erdbeben im Südosten des Landes; viele der Opfer starben in Gebäuden, die so hätten nie gebaut werden dürfen. Viel Wut richtete sich daraufhin gegen die Regierung.

Kostenloses Gas, höhere Gehälter: teure Wahlgeschenke helfen Erdoğan

Dennoch, Erdoğan hat seine Kritiker eines Besseren belehrt. Bereits in der ersten Runde vor zwei Wochen holte er überraschend 49,5 Prozent der Stimmen und knackte fast die 50-Prozent-Hürde. Zudem sicherte er seiner islamisch-nationalistischen AKP im Bündnis mit der rechtsextremen MHP die absolute Mehrheit im Parlament.

Dieses starke Ergebnis ist kein Zufall: Anders als sein Herausforderer Kılıçdaroğlu griff Erdoğan von Anfang an auf alle staatlichen Ressourcen zurück. Da ist der Mindestlohn, den das Staatsoberhaupt kurzerhand erhöhen ließ. Da sind die Gehälter für Staatsdiener, die er kurz vor den Wahlen auf mindestens 22.000 Lira festsetzen ließ (rund 1000 Euro). Da ist die Ankündigung über kostenlose Gaslieferungen für private Haushalte. Die Folgen der schweren Erdbeben tat Erdoğan als Schicksalsschlag ab und versprach Betroffenen, Zehntausende neue Wohnungen bauen zu lassen.

Massenmedien sind regierungstreu

Solche teuren Wahlgeschenke wurden von regierungsnahen Medien landesweit rauf und runtergespielt. Zwar gibt es mit den Zeitungen "Cumhuriyet", "Sözcü" und den Sendern Fox TV und Halk TV Medien, die der Opposition viel Platz einräumen. Doch in einem Land, in dem geschätzt 90 Prozent der Medien ausschließlich Werbung für Erdoğan machen, bleibt ihre Reichweite limitiert. Auch der Staatssender TRT, der durch Steuergelder finanziert wird, räumte Erdoğan ein Vielfaches mehr an Sendezeit ein als Kılıçdaroğlu.

Die Massenmedien sind nicht allein für Erdoğans Sieg verantwortlich, doch sie können entscheidend sein, wenn es darum geht, die absolute Mehrheit bei einer Wahl zu holen. Kılıçdaroğlu bezeichnete am Sonntagabend die Stichwahl um das Präsidentenamt nicht ohne Grund als die "ungerechteste" Wahl, die es je gegeben habe.

Zur Realität gehört aber auch, dass Kritik an der Regierung große Teile der Bevölkerung nicht interessiert. Sie halten Erdoğan für den richtigen Mann zur richtigen Zeit, wie sie sagen, um die Türkei vor "ausländischen Mächten zu schützen". Sie sehen seine religiöse und stark nationalistische Politik für den richtigen Kurs, und scheinen ihm dafür alles zu verzeihen. Dass Erdoğan während des Wahlkampfs ein Fake-Video einsetzte, in dem die Opposition in Verbindung mit der verbotenen, militanten PKK gebracht wurde, ist seinen Anhängern offenbar egal.

Wie schwer es generell ist, die Türken aus ihren politischen Milieus rauszuholen, zeigte sich in den von den Erdbeben betroffenen Gebieten. Obwohl die Opposition die Regierung für die Baumängel an den vielen eingestürzten Gebäuden mitverantwortlich machte, dominierte Erdoğan die Wahlurnen auch dort.

Opposition hetzte gegen Flüchtlinge für Stimmen von rechts

Dass der Wahlkampf am Ende durchaus schmutzig wurde, lag aber nicht nur an Erdoğan. Kılıçdaroğlu vollzog zwischen der ersten Runde der Präsidentschaftswahl und der Stichwahl eine Wende. Als Anführer eines Oppositionsbündnisses mit insgesamt sechs Parteien setzte auch er am Ende auf die Nationalismus-Karte und hetzte gegen die Millionen Flüchtlinge im Land. Mehrfach sagte Kılıçdaroğlu, dass er als Präsident alle Afghanen und Syrer nach Hause schicken werde. Lange hatte Erdogan Flüchtlinge in die Türkei gelassen, zuletzt kippte die Stimmung im Zuge der Wirtschaftskrise jedoch, heute fordern auch Erdogans Anhänger, dass die Flüchtlinge das Land wieder verlassen.

Kılıçdaroğlus Stimmungsmache führte zu der bizarren Situation, dass ausgerechnet jenes Oppositionsbündnis, das im Wahlkampf thematisch eher auf Versöhnung, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit setzte, Ressentiments gegen Flüchtlinge schürte. Kılıçdaroğlus Kalkül war, für die Stichwahl die Stimmen jener Türken zu kriegen, die im ersten Wahlgang für den dritten Kandidaten, Sinan Ogan, einen Ultranationalisten, gestimmt hatten. Der Plan ging nicht auf.

Verloren, aber Millionen Türken wollen Rückkehr zu Demokratie

Möglicherweise begann Kılıçdaroğlu gleich zu Anfang des Wahlkampfs einen Fehler, indem er darauf beharrte, selbst in den Ring gegen Erdoğan zu steigen. Der CHP-Chef hätte seinem Parteikollegen Ekrem Immaoglu, dem Oberbürgermeister von Istanbul, den Vortritt lassen können. Fakt ist: Imamoglu ist beliebter als Kılıçdaroğlu. Rückwirkend ist aber alles einfacher zu deuten; gut möglich, dass auch Istanbuls Bürgermeister im Duell gegen Erdoğan den Kürzeren gezogen hätte. Insgesamt hat Kılıçdaroğlu gut gekämpft, ist trotz seiner 74 Jahre von Interview zu Interview gerannt und wirkte dabei fitter als der 69-jährige Erdoğan. Dennoch, er täte nun gut darin, die erneute Niederlage gegen Erdoğan zu nutzen, um Platz für Nachwuchs zu schaffen.

So bitter die Wahlschlappe auch für die Opposition ist, das Ergebnis darf nicht darüber hinwegtäuschen, wie viel Potenzial in der türkischen Gesellschaft steckt. Trotz staatlicher Ressourcen auf Erdoğans Seite und vielen Hürden für die Opposition haben 48 Prozent der Türken für Kılıçdaroğlu gestimmt. Das ist ein Hinweis darauf, dass die türkische Zivilgesellschaft auch nach zwanzig Jahren Erdoğan resistent sein kann. Trotz einer hart durchgreifenden Polizei demonstrieren bis heute Frauen und Männer für ihre Rechte, regierungskritische Journalisten setzen ihre Freiheit aufs Spiel, weil sie nicht müde werden, die Rückkehr zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzufordern - das muss den Türken erst einmal jemand nachmachen.

Wie geht es jetzt weiter?

Und jetzt? Erdoğan hätte sich nach seinem Sieg als Versöhner geben können, er hätte auf seine Kritiker zugehen können, um zu versuchen, diese tief gespaltene Gesellschaft zu einen. Doch das ist unwahrscheinlich, wie Erdoğan gleich bei seiner Siegesrede klarmachte. Die Bühne nutzte er, um erst einmal Stimmung gegen lesbische, schwule und bisexuelle Menschen zu machen und die Opposition anzugreifen. "Meine Brüder, ist denn die CHP nicht pro LGBT?", rief er über die größte Oppositionspartei, nur um dann zu sagen, dass es das in seinem eigenen Wahlbündnis nicht gebe.

Erdoğan wird spätestens mit dieser Wahl verstanden haben, dass er, egal wie lange an der Macht, die Hälfte der türkischen Wählerschaft wahrscheinlich nie erreichen wird. Eine Erkenntnis, die Folgen für die Kommunalwahlen 2024 haben könnte. Bei den letzten Kommunalwahlen verlor Erdoğans AKP wichtige Metropolen wie Istanbul und Ankara an Kandidaten der CHP. Nun wird er sich diese Städte zurückholen wollen und es ist nicht davon auszugehen, dass er bis dahin der Opposition und Regierungskritikern mehr Raum zum Luft holen geben wird. Zu fest hat er dafür die Institutionen und Behörden des Landes im Griff.

Andererseits kann Erdoğan durch seinen Sieg die hausgemachten Probleme nicht auf andere abladen; aus der Wirtschaftskrise muss er das Land selbst hinaus manövrieren. Gelingt ihm das nicht, wird der Frust unter den Menschen weiter steigen.

Quelle: ntv.de

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