Politik

Hotspot-Abriegelung in Sachsen? "Was Kretschmer macht, ist abenteuerlich"

Ein Fahrzeug der Bundespolizei im Zentrum von Leipzig. In Sachsen gilt der Lockdown schon seit Montag.

Ein Fahrzeug der Bundespolizei im Zentrum von Leipzig. In Sachsen gilt der Lockdown schon seit Montag.

(Foto: dpa)

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer verfalle in der Corona-Politik "von einem Extrem ins andere", sagt der sächsische Linke-Fraktionschef Rico Gebhardt im Interview mit ntv.de. "Damit verunsichert man nur die Gutwilligen in der Gesellschaft."

ntv.de: Die sächsische Landesregierung denkt Berichten zufolge darüber nach, Corona-Hotspots abriegeln zu lassen und dort außerdem komplette Ausgangssperren zu verhängen. Halten Sie das für sinnvoll?

Rico Gebhardt ist Fraktionschef der Linken im sächsischen Landtag.

Rico Gebhardt ist Fraktionschef der Linken im sächsischen Landtag.

(Foto: picture alliance/dpa)

Rico Gebhardt: Nein. Wenn man tatsächlich darüber nachdenken sollte, Hotspots abzuriegeln, dann müsste man aktuell ja den ganzen Freistaat Sachsen abriegeln. Das ist der größte Hotspot, den es derzeit in der Bundesrepublik gibt, und das mit einer Inzidenz weit oberhalb des Durchschnitts der Bundesländer.

Sie fordern jetzt aber nicht die Abriegelung Sachsens?

Natürlich nicht. Ich sage das so, um deutlich zu machen, wie absurd diese Debatte ist. Erst hat die Landesregierung versäumt, Maßnahmen zu ergreifen - im Oktober noch hat sie Menschen ermutigt, zu uns nach Sachsen in den Urlaub zu kommen. Den kleinen Grenzverkehr hat sie wochenlang zugelassen, als Tschechien schon der Hotspot Europas war. Und jetzt denkt sie darüber nach, einzelne Dörfer und Gemeinden abzuriegeln. Das erinnert mich eher an chinesische Verhältnisse - nicht an die sächsischen Verhältnisse, die der Ministerpräsident gestern ausgerufen hat.

Ministerpräsident Kretschmer hat am Mittwoch gesagt, der Grund für die angespannte Lage in Sachsen liege darin, "dass die Sächsinnen und Sachsen die Maßnahmen, die wir hier vorschreiben, nicht so verinnerlicht haben, wie man das tun muss, wenn man in solch einer pandemischen Lage ist". Dass Ministerpräsidenten so über ihre Wählerinnen und Wähler sprechen, hört man selten.

Das war kein Lapsus, er hat das vor wenigen Tagen schon mal so gesagt. Er gibt tatsächlich den Sächsinnen und Sachsen die Schuld dafür, dass die Werte so hoch sind. Es ist richtig, dass es in Sachsen Menschen gibt, die seit vielen Monaten die Existenz des Coronavirus' abstreiten und sich nicht an die Abstandsregeln halten. Aber Herr Kretschmer hat leider dazu beigetragen, diesen Leuten Recht zu geben.

Inwiefern?

Er hat sich mit solchen Schwurblern getroffen, hat mit ihnen diskutiert, wie er das ja immer gerne macht - mit allen diskutieren. Die Schwierigkeit ist: Kretschmer versteht nicht, dass er diesen Leuten damit ein Podium bietet, dass er sie darin bestärkt, sich im Recht zu fühlen, indem er mit ihnen redet. Auch deswegen ist es für mich nicht verwunderlich, dass die Werte in Sachsen so hoch sind.

Glauben Sie, dass es die Korrelation zwischen AfD-Wählern und Corona-Ausbreitung gibt, auf die gelegentlich hingewiesen wird?

Vielleicht kann man das statistisch nachweisen. Aber bestimmt gibt es ganz viele Gründe, warum die Werte bei uns so hoch sind. Zum Beispiel haben wir eine relativ alte Bevölkerung, was mit der Abwanderung zu tun hat. Ein weiterer Grund dürfte die Grenze zu Tschechien sein. Aber sicher ist: Allen Bürgerinnen und Bürgern vorzuwerfen, verantwortlich für die angespannte Corona-Lage zu sein, das ist schon abenteuerlich und gehört sich nicht für einen Ministerpräsidenten.

Sie würden die Verantwortung eher bei der Landesregierung sehen als bei den Sächsinnen und Sachsen?

Anfang März hatten wir in Sachsen die härtesten Regeln aller Bundesländer. Dann hat der Ministerpräsident relativ schnell gelockert, weil wir gute Zahlen hatten. Er hat sogar infrage gestellt, ob 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner der Maßstab aller Dinge sein müssen. Und jetzt behauptet er, wir müssten auf den Inzidenzwert von 50 kommen, damit die Gesundheitsämter die Nachverfolgung gewährleisten können. Als im Oktober im Freistaat Sachsen die Möglichkeit der touristischen Übernachtung geschaffen wurde, war schon absehbar, dass die Zahlen diesmal rasanter steigen. Jetzt steht die Landesregierung vor dem Scherbenhaufen ihrer eigenen Politik.

Wie stehen Sie zum Lockdown?

Wir als Linke haben die Landesregierung immer bei den Gesundheitsmaßnahmen unterstützt. Wir haben auch gesagt, dass wir dafür Eingriffe in Freiheitsrechte in Kauf nehmen. Denn der Gesundheitsschutz geht vor. Deshalb haben wir auch den Lockdown mitgetragen. Wir haben aber auch immer erklärt, dass er zu spät kommt. Er hätte vor drei Wochen kommen müssen, zumindest im Freistaat Sachsen. Die Zahlen sind hier ja nicht erst seit gestern so hoch, sondern schon seit vielen Wochen.

Ministerpräsident Kretschmer hat am 11. Dezember gesagt, nun seien "autoritäre Maßnahmen des Staats" nötig. Ist die neue Rhetorik ein Zeichen dafür, dass er einen Kurswechsel vollzogen hat?

Den Kurswechsel, um ihm jetzt mal was Positives zu unterstellen, hat er vollzogen, indem er den Lockdown verkündet hat - bei uns hat der Lockdown ja nicht erst am Mittwoch, sondern schon am Montag begonnen. Da wurde offenbar erkannt, dass wir in einer anderen Situation sind als der Rest der Bundesrepublik. Allerdings ist mir die Kommunikation der Landesregierung nicht ganz schlüssig. Das Statement des Ministerpräsidenten zu den Berichten über eine Abriegelung der Hotspots ist ja butterweich. Da sagt er eher: im Moment nicht, später vielleicht schon. Ein Dementi sieht jedenfalls anders aus. Ich weiß natürlich, dass in dieser Corona-Situation manche Aussagen nach 24 Stunden nichts mehr wert sind. Aber gerade deshalb sollte man doch nicht von einem Extrem ins andere verfallen. Damit verunsichert man nur die Gutwilligen in der Gesellschaft.

Haben Sie Angst davor, dass ein Triage-Szenario für Sachsen Realität wird?

Ja, die Angst besteht. Und ich möchte nicht in der Haut von Ärztinnen und Ärzten stecken, die eine solche Entscheidung treffen müssen. Wahrscheinlich ist es im Moment noch nicht wirklich notwendig, weil man neue Patienten derzeit wohl noch in andere Krankenhäuser bringen kann. Allerdings kann auch diese Entscheidung schon fast eine Art Triage sein, denn manche Fahrten dauern anderthalb bis zwei Stunden. Das hatten wir schon im Freistaat Sachsen.

Mit Rico Gebhardt sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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