Melnyk bei "Anne Will" "Was Sie anbieten, ist moralisch verwahrlost"
09.05.2022, 03:13 Uhr
Melnyk ist enttäuscht darüber, dass Scholz nicht mehr versprochen hat.
(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)
In seiner Fernsehansprache erläutert Kanzler Scholz die Ziele der Bundesregierung im Ukraine-Krieg: Man dürfe vor nackter Gewalt nicht kapitulieren. Ob das mit der Lieferung schwerer Waffen oder mit Diplomatie funktioniert, diskutieren die Gäste bei "Anne Will".
Während sich die russische und die ukrainische Armee im Süden und Osten der Ukraine schwere Kämpfe liefern, ist in Deutschland eine Diskussion um die weitere Lieferung schwerer Waffen entbrannt. Der Bundestag hatte dazu vor eineinhalb Wochen einen klaren Beschluss getroffen, der diese Lieferungen an die Ukraine unterstützt. Das hat am Sonntagabend Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Fernsehansprache bestätigt, obwohl er von schwerem Gerät sprach. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges habe man in Europa für ein Ende von Krieg und Gewaltherrschaft gekämpft. "Und doch ist es wieder passiert", sagte Scholz mit Blick auf den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Darum versprach Scholz: "Wir verteidigen Recht und Freiheit an der Seite der Angegriffenen. Das nicht zu tun hieße: kapitulieren vor nackter Gewalt. Wir helfen, damit die Gewalt ein Ende finden kann."
Zwei Gruppen von Wissenschaftlern, Politikern und Kulturschaffenden hatten zuvor in offenen Briefen unterschiedliche Meinungen darüber geäußert, wie der aktuelle Krieg zu beenden sei: mit Diplomatie oder mit weiteren schweren Waffen. Zwei der Unterzeichner der beiden offenen Briefe sind am Sonntagabend zu Gast bei Anne Will im Ersten: Der Soziologe Harald Welzer, der der Meinung ist, die Diskussion um eine diplomatische Lösung im Ukraine-Krieg sei zu sehr in den Hintergrund gerückt, und der CDU-Politiker Ruprecht Polenz, für den ein Ende des Konflikts ohne weitere Waffenlieferungen nicht möglich ist.
Rede von Scholz "zu indifferent"
Beide kritisieren zu Beginn der Sendung die Rede des Bundeskanzlers. "Zu indifferent", nennt sie Welzer. Ihm fehlt eine Positionierung in die eine oder andere Richtung, also in Richtung Diplomatie oder schwere Waffen. "Es war nicht viel Neues drin", meint Polenz. Allerdings erkennt er an, dass Scholz jetzt seine Regierung für eine Fortsetzung des harten Kurses hinter sich sammle. "Es geht darum, dass der russische Präsident Putin den Krieg nicht gewinnen darf, er darf keine Vorteile davon haben", so Polenz.
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert ist froh, dass Scholz die Linien klar genannt habe, "die die Bundesregierung bei ihrem Handeln leiten und die unverrückbar sind: Wir werden nicht zur Kriegspartei, wir schwächen nicht unsere eigene Verteidigungsfähigkeit und wir machen nichts im Alleingang". Die Moderatorin weist auf einen weiteren Punkt hin, den Scholz in seiner Rede genannt hat: Nichts zu unternehmen, was Deutschland mehr schadet als Russland.
Die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Britta Haßelmann, hebt den Willen des Bundeskanzlers hervor, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfe. "Die Ukraine hat das Recht auf territoriale Integrität, und sie darf sich keinen Diktatfrieden vorschreiben lassen", fordert Haßelmann.
Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hätte sich konkretere Aussagen zu den Waffen gewünscht, die Deutschland liefern möchte. Er glaubt nicht, dass die versprochenen Gepard-Panzer je in der Ukraine zum Einsatz kommen werden, weil die Suche nach Munition offenbar vergeblich sei.
"Auf Logik der Diplomatie setzen"
Wenn es um weitere Waffenlieferungen an die Ukraine geht, so ist der Soziologe Harald Welzer damit nicht einverstanden. "Weil wir es hier mit einem Gewaltprozess zu tun haben", begründet er seine Ansicht. Schwere Waffen würden den Krieg verlängern und die Gewaltspirale vergrößern, warnt der Wissenschaftler. "Und das stellt den Punkt infrage, dass wir keine Kriegspartei werden", sagt er. Russland sei eine Atommacht, und Putin habe bereits mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. "Aus der Eskalationsdynamik der militärischen Gewalt resultiert die Gefahr einer zunehmenden Entgrenzung des Krieges und damit das unwillkürliche Hineinrutschen in eine Rolle, die der Bundeskanzler ablehnt", so Welzer. Kurz gesagt: Wir könnten durch Waffenlieferungen in den Krieg hineingezogen werden. Das sei gefährlich, denn: "Ein Krieg gegen eine Atommacht kann nicht im herkömmlichen Sinne gewonnen werden."
Kann er doch, entgegnet der CDU-Politiker Polenz - und verweist auf die Kriege in Vietnam und Afghanistan, die die Atommacht USA verloren oder zumindest nicht gewonnen habe. Putins Ziel sei, die Ukraine zu vernichten. "Damit darf er keinen Erfolg haben", so Polenz. Der ukrainische Präsident habe ein klares Kriegsziel formuliert: Die russische Armee müsse dahin zurück, wo sie vor Kriegsbeginn gestanden habe, und dann könne man über die besetzten Gebiete in der Ukraine verhandeln.
Aber die Frage der ewigen Aufrüstung habe kein logisches Ende, sagt Welzer, womit er philosophisch sicherlich recht hat, militärisch oder gar wirtschaftlich jedoch nicht. Deswegen wollten die Unterzeichner des von ihm vertretenen offenen Briefes aus der "eindimensionalen Logik des Setzens auf Waffen" aussteigen und eine zweite Option anbieten. "Wir möchten neben die Logik der Gewalt die Logik der Diplomatie setzen", sagt er.
"Absolute Illusion"
Verhandeln will auch die ukrainische Regierung, man habe diesen Schritt gehen wollen, aber Putin habe nicht mitgemacht, erklärt Melnyk. Die Forderungen Welzers nennt er "eine absolute Illusion" und geht den Soziologen frontal an: "Was Sie anbieten, ist moralisch verwahrlost." Er wirft Welzer vor, die Kapitulation der Ukraine zu wollen. Für Melnyk ist klar: "Nur in der Kombination, schwere Waffen zu liefern und Putins Geldströme zu stoppen, ist es möglich, dass er sagt: Genug ist genug, wir machen Pause. Und dann wird er auf uns zukommen und sagen: Leute, wir machen einen Waffenstillstand und schauen, wie es weiter geht."
Eine Schlacht haben die Ukraine und ihre Verbündeten auf jeden Fall gewonnen: Bei der heutigen Siegesfeier in Moskau zum Ende des Zweiten Weltkrieges kann der russische Präsident nicht wie erhofft den schnellen Sieg über die Ukraine verkünden.
Quelle: ntv.de