Politik

Demokratie-Talk bei "Anne Will" Was tun mit Erdoğans Türkei?

Anne Wills Gäste, von links nach rechts: Günther Verheugen, Sevim Dağdelen, Armin Laschet, Heiko Maas und Can Dündar (v.l.n.r.)

Anne Wills Gäste, von links nach rechts: Günther Verheugen, Sevim Dağdelen, Armin Laschet, Heiko Maas und Can Dündar (v.l.n.r.)

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Erst landet Deniz Yücel in einem türkischen Gefängnis, dann verbietet eine deutsche Stadt dem türkischen Justizminister einen Wahlkampfauftritt - und schließlich packt Präsident Erdoğan auch noch die Nazi-Keule aus. Wie lassen sich die Beziehungen beider Länder wieder normalisieren?

Seit der Inhaftierung des Journalisten Deniz Yücel und der darauffolgenden Absage eines Wahlkampfauftrittes des türkischen Justizministers in Deutschland sind die Beziehungen der beiden Länder auf einem neuen Tiefpunkt angelangt. Der türkische Präsident warf der Bundesregierung sogar mehrfach Nazi-Praktiken vor: "Ich habe gedacht, der Nationalsozialismus in Deutschland ist vorbei, aber er geht noch immer weiter", lässt Reccep Tayyip Erdoğan etwa am Sonntagabend über die Nachrichtenagentur Anadolu verbreiten. Kurz darauf möchte Anne Will von ihren Gästen wissen, wie tief der Graben zwischen Ankara und Berlin wirklich ist - und wie man am besten mit Erdoğans Türkei umgeht.

Zu Gast im Studio sind an diesem Abend Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), der Ex-Chefredakteur der Tageszeitung "Cumhuriyet" Can Dündar, Sevim Dağdelen von der Linken, der ehemalige EU-Erweiterungskommissar Günther Verheugen sowie Armin Laschet, stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU. Im späteren Verlauf der Sendung schaltet sich auch noch die Schwester des inhaftierten Journalisten zu: Ilkay Yücel ist seit Sonntag in Istanbul und hofft, ihren Bruder im Gefängnis besuchen zu dürfen.

"Der Staat darf nicht entscheiden, wer das Rederecht hat"

Seit Montag in türkischer Untersuchungshaft: Deniz Yücel

Seit Montag in türkischer Untersuchungshaft: Deniz Yücel

(Foto: dpa)

Bestimmendes Thema der ersten halben Stunde ist allerdings die Frage, ob man türkischen Politikern erlauben sollte, in Deutschland Wahlkampf für das bevorstehende Referendum machen zu dürfen - bei dem auch 1,4 Millionen Deutsch-Türken entscheiden sollen, ob die Türkei das Präsidialsystem einführt und Erdoğan damit praktisch zum Alleinherrscher macht. "Wenn es darum ginge, einen Auftritt zu verbieten, geht es nur, indem die Bundesregierung ein Einreiseverbot ausspricht - und das ist, glaube ich, gerade genau das, was Herr Erdogan will", sagt Heiko Maas und führt aus: "Ein Einreiseverbot würde zwangsläufig dazu führen, dass die diplomatischen Beziehungen zur Türkei abreißen. Ich glaube, dass dadurch nichts besser, aber alles schlimmer werden kann. Dann sind die Dinge, über die wir uns heute unterhalten, lediglich Sandkastenspiele."

Eine Meinung, die auch Ex-EU-Kommissar Verheugen vertritt: "Souverän reagieren heißt: Sich nicht auf das Niveau Erdogans herablassen." Und selbst Can Dündar, der bereits wegen eines kritischen Artikels in türkischer Haft saß und mittlerweile in Deutschland im Exil leben muss, schließt sich der allgemeinen Meinung an: "Deutschland darf sich von den Verhaltensweisen nicht an die Türkei annähern. Der Staat darf nicht darüber entscheiden, wer das Rederecht hat und wer nicht." Nur Dağdelen ist anderer Meinung: "Ich möchte nicht, dass Deutschland zur Wahlkampftribüne der türkischen Despotie wird", sagt die Linken-Politikerin.

Ob es aber überhaupt möglich ist, Deutschland aus dem Wahlkampf herauszuhalten, darf bezweifelt werden - der Fall Yücel ist dafür das beste Beispiel: Erdoğan wolle seinen Landsleuten in der Bundesrepublik zeigen, wie weit seine Macht reiche, lautet das allgemeine Credo. Die Bundesregierung selbst bringt er damit in eine vertrackte Lage: "Es ist ein sehr schwieriger Grat, in dieser Situation laut aufzutreten, weil wir damit die Lage für den Betroffenen im Zweifelsfall nur noch schlimmer machen", sagt der Justizminister. Und auch Can Dündar, der im selben Gefängnis saß wie Yücel jetzt, ist davon überzeugt, dass nur die öffentliche Meinung den Journalisten befreien kann: "Ich denke, dass es eine große Protestaktion geben muss, so wie das auch in meinem Fall war. Diese Solidarität hat uns damals geholfen, das ist auch jetzt wichtig."

Der extra für diesen Teil der Sendung zugeschalteten Ilkay Yücel fällt es spürbar schwer, über ihren Bruder zu sprechen: Immer wieder muss sie schlucken, später bricht ihr mehrfach die Stimme. Noch hat sie ihren Deniz nicht gesehen, sondern "weiß auch nur das, was in den Medien steht." Die Hoffnung auf eine schnelle Lösung möchte sie indes nicht aufgeben, auch weil ich gar nicht darüber nachdenken möchte, dass er mehrere Jahre gefangen sein könnte."

"Wie konnte es soweit kommen?"

Kurz vor Ende der Sendung lenkt Verheugen schließlich den Blick auf die Gründe für die heutige verfahrene Situation: "Wir befassen uns gar nicht mit der Frage: Wie konnte es soweit kommen? Ende 2004 haben wir noch konstatiert, dass die Türkei auf dem besten Weg in die EU ist. Und was ist auf diesem Weg passiert? Ziemlich genau im Jahr 2005 hat sich die Politik in wichtigen europäischen Ländern verändert und die Botschaft war: Ihr könnt machen, was ihr wollt, wir nehmen euch nicht, weil ihr keine Christen und keine Europäer seid." Das betretene Schweigen in der Runde löst schließlich der Justizminister auf: "Es hat damals in vielen europäischen Ländern tatsächlich einen Richtungswechsel gegeben, vielleicht hätte man damals die Verhandlungen ernsthafter mit der Türkei umgehen müssen", sagt Maas.

Dafür ist es zwar nun zu spät, aber ausgerechnet der Exil-Journalist Dündar sieht einen Silberstreif am Horizont: "Ungefähr die Hälfte des Landes wird gegen das Referendum stimmen, ich habe also noch Hoffnung: Unser Land hat eine starke Vergangenheit,  und es hat auch eine starke Zukunft." Ist die Zukunft der Türkei vielleicht doch nicht ganz so düster, wie es hier und jetzt den Anschein hat? Spätestens das Referendum am 16. April dürfte diese Frage zumindest vorläufig beantworten.

Quelle: ntv.de

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