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Geiseldeal stockt Wenn Netanjahu der Hamas immer tiefer in die Falle geht

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Anfang der Woche demonstrierten erneut Tausende Israelis gegen die Regierung und für einen Geiseldeal.

Anfang der Woche demonstrierten erneut Tausende Israelis gegen die Regierung und für einen Geiseldeal.

(Foto: IMAGO/Middle East Images)

Ein Geiseldeal, der das Leben der aus Israel Entführten rettet, scheint in greifbarer Nähe. Doch würden damit weder Netanjahu noch die Hamas ihre Ziele erreichen. Reicht der Druck auf beide Gegner aus, damit er Wirklichkeit wird?

Nun auch noch Olaf Scholz. Als hätten Joe Biden (am Telefon) und Anthony Blinken (zu Besuch) nicht schon ausgereicht: Israels Premier Benjamin Netanjahu bekommt Druck von allen Seiten. Am Vormittag reihte sich der deutsche Bundeskanzler ein in den Reigen der Verbündeten, die - wie der US-Präsident und Washingtons Außenminister - der israelischen Regierung klar machen wollen, dass jetzt ein Deal mit der Hamas zwingend zustande kommen muss. Keine Ausflüchte, keine Bedenken, keine roten Linien mehr.

Seit Monaten verhandeln der israelische Staat und die islamistischen Terroristen über Mittelsleute in immer neuen Runden um eine Auslieferung der am 7. Oktober verschleppten Geiseln, die noch in Hamas-Gewalt sind. Wieder und wieder sehen die vermittelnden Kataris und Ägypter eine erneute Einigung wie im vergangenen November möglich, dann wird der ausgehandelte Kompromiss Stück für Stück eingeschränkt, aufgeweicht und schließlich von einer Seite abgelehnt. Diese Option, so soll nun beiden Seiten bewusst werden, besteht nicht mehr.

Netanjahu will von Rafah-Plänen nicht ablassen

Auf dem Tisch, bereit zur Unterschrift, liegt seit Montag eine Vereinbarung, die den Terroristen in einer ersten Phase eine Feuerpause von sechs Wochen zugestehen würde, dazu die Freilassung einer offiziell unbekannten Zahl palästinensischer Häftlinge. Im Gegenzug müsste die Hamas 33 Geiseln freilassen. Darüber hinaus gibt es Berichte, die auch noch die Möglichkeit für die Palästinenser einbeziehen, in den Norden Gazas zurückzukehren. Die israelische Armee würde dann aus dem Korridor, der den Süden vom Norden trennt, abziehen. In einer zweiten Runde müssten alle restlichen Geiseln freikommen, die Waffenruhe würde sich noch einmal deutlich verlängern. Von bis zu einem Jahr ist die Rede.

Ein sehr großzügiges Angebot der israelischen Seite, wie die USA in Richtung Hamas signalisieren mit der Aufforderung, es endlich auch anzunehmen. Zugleich machte Netanjahu am Dienstag klar, dass die internationale Hoffnung, aus dieser langen Waffenruhe könnte ein Ende der Kampfhandlungen erwachsen, illusorisch sei. "Wir werden nach Rafah hineingehen und die Bataillone der Hamas dort zerschlagen - mit Deal oder ohne Deal", so zitiert das Büro Netanjahus ihn bei einem Treffen mit Geiselfamilien. Den Krieg zu beenden, bevor die Kriegsziele erreicht sind, komme "nicht infrage".

Dabei lässt Netanjahu unerwähnt, dass diese Ziele nach sieben Monaten Krieg deutlich weiter entfernt scheinen, als die israelische Regierung wohl anfangs vermutet hat. Militärisch befreien konnte man nur drei Geiseln von weit über 100. Zwar bilanzieren Israels Verteidigungskräfte, sie hätten große Teile der Hamas geschlagen, bis auf vier Bataillone, die sich in Rafah verschanzt hätten. Doch das weitverzweigte Tunnelsystem unter dem Gazastreifen konnte man nach Aussage des Terrorismus-Experten Peter R. Neumann wohl nur zu einem knappen Drittel zerstören. Auch fliegen weiterhin täglich Bomben aus Gaza gegen Israel. Ein kurz bevorstehender militärischer Sieg sieht anders aus.

Wohl auch deshalb fordert Netanjahu die Hamas auf, nun schnell einzuwilligen, sonst starte die Offensive auf Rafah in Kürze. Möglich, dass der Premier diese Position auch bezieht, um sich vor seinen Anhängern als harten Hund zu inszenieren, der von den USA zum Abzug gezwungen werden muss. Denkbar jedoch auch, dass er den Gaza-Krieg wirklich bis zu einem Ende führen will, das aufgrund der Million Flüchtlinge vor Ort in Rafah noch sehr viel bitterer würde, als die Bilanz an getöteten Zivilisten jetzt bereits ist.

Doch käme der Hamas eine Fortführung der brutalen Offensive in Gaza aus Sicht des Nahost-Experten und Autors Richard Schneider sogar gelegen. Viele Staaten positionieren sich in der Gaza-Frage gegen Israel, in den USA stehen die Universitäten Kopf, auch von den Freunden wird Jerusalem beschworen, nicht nach Rafah zu gehen. "In den Medien und auf der moralischen Ebene haben die Terroristen den Krieg längst gewonnen", bilanziert Schneider für ntv.de.

Die Geiseln sind Faustpfand der Hamas

"Und da der Hamas das Schicksal der eigenen Bevölkerung völlig egal ist, könnte sie Netanjahu in Rafah noch tiefer in ihre Falle locken, indem Israel zwar möglicherweise militärisch gewinnt, aber vor allem moralisch und auf diplomatischer Ebene in den Augen der Welt nur verlieren kann." Daher rechnet Schneider nicht damit, dass die Islamisten, selbst wenn der Deal erstmal zustande käme, tatsächlich im Zuge der weiteren Verhandlungsrunden alle Geiseln freilassen würden. Sie sind ihr einziges Faustpfand, um Israel zur Mäßigung zu zwingen. "Das würden sie tatsächlich nur machen, wenn Israel der Maximalforderung entsprechen und sich bereit erklären würde, komplett aus Gaza abzuziehen", so der Experte.

Ein Abzug wiederum ist mit den extrem rechten Koalitionspartnern in der Regierung nicht zu machen, die Maximalforderungen in die exakt andere Richtung stellen: Sie wollen die Hamas komplett vernichten, den Gazastreifen komplett besetzen und wieder neu besiedeln. Erst am Wochenende drohte man den Austritt aus der Regierung an, sollte Netanjahu vom Plan der Bodenoffensive auf Rafah abweichen.

Da vom Fortbestand dieser Koalition nicht nur Netanjahus politisches Überleben, sondern auch seine Immunität im laufenden Korruptionsprozess abhängt, besteht die Gefahr, dass der Regierungschef in seinem Handeln nicht von den Interessen Israels geleitet wird, sondern von seinen eigenen Belangen. Als Premier kommt es ihm entgegen, wenn der Krieg weitergeht. So lange drohen ihm wohl kaum Neuwahlen und damit auch kein Ende seiner Regierungszeit. So vermeidet es die israelische Regierung auch, konstruktiv an einer Zukunft für den Gazastreifen zu arbeiten, obwohl Vorschläge dazu seit Monaten international diskutiert werden.

Es braucht also wohl maximalen Druck auf die israelische Regierung, soll der Geiseldeal eine Chance bekommen. "Die Demonstrationen in Israel, auf denen Tausende Teilnehmer einen Deal fordern, reichen nicht aus", sagt Richard Schneider. Um die Regierung zu bewegen, "braucht es Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen".

Joe Biden macht seinen großen Einfluss nur begrenzt geltend, denn er ist im Wahlkampf. "Alles, was er tut, um Netanjahu stärker unter Druck zu setzen, werden die Republikaner nutzen, um ihm vorzuwerfen, er ließe Israel im Stich." Mit all diesen Faktoren im Blick lässt sich ermessen, wie sehr es beinahe einem Wunder gleichkäme, würde der jetzige Deal zustande kommen und Bestand haben. Doch vielleicht ist in dieser Lage tatsächlich ein Wunder das einzige, was den Menschen in Gaza und in Israel helfen kann.

Quelle: ntv.de

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