"Macron, Du Verräter" Wenn Teenager für ihre Rente demonstrieren
28.03.2023, 20:35 Uhr Artikel anhören
Protestler auf einem Dach in Paris: Die Demonstranten werden immer jünger.
(Foto: REUTERS)
Weil in Frankreich inzwischen sogar 16-Jährige gegen die Rentenreform auf die Straße gehen, reißen die Proteste nicht ab. Nach dem harten Vorgehen der Polizei fürchten Politikwissenschaftler eine Spirale der Gewalt. Es profitiert der schwarze Block.
Die 16-jährige Milia hat sich ihr Plakat selber gebastelt: "Macron, Du Verräter, lass uns unsere Rente", steht darauf. Egal, ob Präsident Emmanuel Macron sein wichtigstes Reformvorhaben durchsetzt, das eine Anhebung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre vorsieht, oder auch nicht - Milia ist noch Jahrzehnte von ihrem Rentenalter entfernt. Macrons Rentenreform macht sie dennoch wütend.
"Es geht um unsere Zukunft", argumentiert Milia. Sie hat sich - wie viele andere - zur Teilnahme an der Demo entschieden, als die Regierung die Reform Mitte März mithilfe des umstrittenen Verfassungsartikels 49.3 ohne Abstimmung durchs Parlament geboxt hatte. "Das ist doch keine Demokratie mehr", schimpft die 16-Jährige. Die Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften bei den Kundgebungen bereiteten ihr allerdings Sorge, sagt sie. "Frankreich ist doch ein freies Land, ich habe keine Lust, Tränengas abzubekommen, nur weil ich demonstrieren gehe." Experten schätzen, dass der Anteil junger Menschen an der Demonstration zwei bis drei Mal so groß war wie an den vorigen Aktionstagen. Dies geht wohl auch auf das Konto der Sicherheitskräfte, die wegen ihres brutalen Gewalteinsatzes bei den jüngsten Demonstrationen in die Kritik geraten sind.
"Die Gewalt der Polizei macht uns Angst. Aber es ist ein Grund mehr, hier zu sein", sagt Clémentine. "Blieben wir deswegen zu Hause, hätten sie gewonnen", fügt die 20-jährige Biologiestudentin hinzu, die ebenso wie Milia ihren Nachnamen nicht nennen möchte. Dann hebt sie entschlossen ihr Plakat in die Höhe. Darauf steht: "Kommst Du uns mit 49.3, kommen wir Dir mit Mai 68" - eine Anspielung auf die Revolte einer früheren Generation von Studierenden in Frankreich.
"Strategie der Sicherheitskräfte riskant"
Auch der Politikwissenschaftler und Polizei-Experte Fabien Jobard hält die Strategie der Sicherheitskräfte für riskant: "Sie beantworten Gewalt mit Gewalt und scheren sich nicht um Kollateralschäden", sagte er. Dies führe dazu, dass der Protest sich radikalisiere. Der sogenannte Schwarze Block, wie der harte Kern der Randalierer genannt wird, sei vor allem gefährlich wegen der Dynamik, die durch das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte ausgelöst werde, warnt Jobard. Dieses führe "unweigerlich zur Eskalation": "Junge Menschen, die Tränengas abbekommen und aggressives Verhalten der Polizei erleben, reagieren dann wie die Anhänger des 'Black Blocks' und fangen ebenfalls an, Steine zu werfen."
Innerhalb weniger Minuten könne die Zahl der gewaltbereiten Demonstranten dann von einigen Hundert auf einige Tausend steigen. Jobard kritisiert, dass die französischen Sicherheitskräfte zudem Mittel einsetzten, die in anderen Ländern bei Demonstrationen längst verboten seien, etwa Schockgranaten und Hartgummigeschosse. Als typisches Beispiel nennt der Politikwissenschaftler die Ausschreitungen am vergangenen Wochenende im westfranzösischen Sainte-Soline. Dort endete eine Demonstration gegen ein ökologisch fragwürdiges Wasserprojekt in Gewalt und Chaos.
Zwei Demonstranten im Koma
Nach offiziellen Angaben waren etwa tausend gewaltbereite Demonstranten angereist, bewaffnet mit Feuerwerkskörpern und Molotow-Cocktails. Um sie in Schach zu halten, waren 3200 Sicherheitskräfte im Einsatz - mit Quads, Hubschraubern und Wasserwerfern. Etwa 4000 Tränengas- und Schockgranaten wurden abgefeuert. Zwei schwer verletzte Demonstranten befinden sich noch immer im Koma.
Auch in Paris waren am Dienstag wieder Anhänger des Schwarzen Blocks unter den Demonstrierenden. Am späten Nachmittag kam es zu ersten Ausschreitungen, bei denen Mülleimer in Flammen aufgingen und ein Supermarkt geplündert wurde. Die Polizei meldete zahlreiche Festnahmen. Von einer "Beruhigung der Lage", wie sie Macron seit Tagen beschwört, scheint Frankreich noch weit entfernt.
Quelle: ntv.de, Ulrike Koltermann, AFP