Neues Whistleblower-Portal Wie die Ukraine im Krieg gegen Korruption kämpft


Wolodymyr Selenskyj bei der Wahl 2019. Der Kampf gegen Korruption war bereits damals eins seiner zentralen Themen.
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Schon vor seinem Amtsantritt versprach der ukrainische Präsident Selenskyj, die Korruption zu bekämpfen, indem Whistleblower belohnt werden. Theoretisch möglich ist das bereits seit einigen Jahren, doch erst jetzt könnte die erste Belohnung ausgezahlt werden - ein sechsstelliger Betrag.
Im Präsidentschaftswahlkampf von 2019 gab es reichlich Slogans des damaligen Seiteneinsteigers Wolodymyr Selenskyj, die seither fest in der politischen Folklore der Ukraine verankert sind. Der ehemalige Schauspieler, zugleich einer der erfolgreichsten Unterhaltungskünstler des gesamten postsowjetischen Raums, positionierte sich im Rennen gegen den damaligen Präsidenten Petro Poroschenko als das völlige Gegenteil der gesamten Politikelite - und glänzte mit provozierenden Ideen. Das Wahlplakat "Melde einen korrupten Beamten - und erhalte dafür zehn Prozent" gehörte dazu.
Nach Selenskyjs Wahlsieg verabschiedete das ukrainische Parlament noch im selben Jahr ein Gesetz, das Whistleblowing-Richtlinien präzisierte. Tatsächlich sollten die Menschen durch das Recht zur Meldung von Korruptionsfällen ermutigt werden, indem ihnen ein Anteil an den Bestechungssummen in Aussicht gestellt wurde. Seither haben Hinweisgeber von Korruptionsdelikten, bei denen die Höhe der Bestechung oder des dem Staat zugefügten Schadens das Fünftausendfache des aktuellen Betrags des Existenzminimums übersteigt, Anspruch auf eine Belohnung.
Diese Belohnung wird bei aufgeklärten und vor Gericht abgeschlossenen Fällen vom Gericht festgelegt und darf bei bis zu zehn Prozent liegen, aber umgerechnet rund 350.000 Euro nicht übersteigen. Seit der Verabschiedung 2019 wurde das Gesetz mehrfach verbessert und auch an EU-Regelungen angepasst. Aber erst jetzt liegt dem Obersten Antikorruptionsgericht das erste Verfahren vor, bei dem die Nationale Agentur für Korruptionsprävention von einer Zahlung an einen Whistleblower ausgeht - erstmals in der Geschichte des Landes. Dabei soll es sich gleich um die Maximalbelohnung handeln, also um etwa 350.000 Euro.
Melde-Portal geht online
Eine weitere Neuigkeit sorgte bereits für viele Schlagzeilen in den ukrainischen Medien. Bislang war die Meldung eines Korruptionsdelikts bei zuständigen Stellen innerhalb eines Betriebs, aber auch auf öffentlichem Wege, beispielsweise über die Medien, möglich. Meist wurden Korruptionsvermutungen allerdings an zuständige Behörden wie die Nationale Agentur für Korruptionsprävention gemeldet. Whistleblower hatten zwar schon bisher ein Recht auf Anonymität, doch nun soll alles noch viel einfacher werden.
So wird in den ersten Septembertagen ein Portal an den Start gehen, das die anonyme Meldung von Verdachtsfällen ermöglicht. Diese Informationen werden dann sowohl an die Leitung der betroffenen Organisation als auch an die Behörden wie die Nationale Antikorruptionsbüro, die Nationale Agentur für Korruptionsprävention oder die Polizei weitergeleitet. Laut Oleksandr Nowikow, dem Chef der Nationalen Agentur für Korruptionsprävention, soll das Whistleblower-Portal das modernste der Welt sein.
"Wir haben die Empfehlungen der EU und die Erfahrungen anderer Länder im Umgang mit Whistleblowern berücksichtigt", betont Nowikow mit Stolz. "Die Whistleblowing-Kultur ist für uns sehr wichtig, denn ohne vertrauenswürdige Bürger wie Whistleblower werden wir keine Nulltoleranz gegen Korruption aufbauen." Hinweisgeber, die selbst an Bestechungsmachenschaften beteiligt waren, dürfen laut Gesetz allerdings keine Belohnung erhalten. Wer Komplize bei Korruptionsdelikten war, jedoch bei den Ermittlungen mitwirkt, darf allerdings damit rechnen, straffrei davonzukommen.
Problem mit Melde-Spam
Insgesamt sehen ukrainische Antikorruptionsexperten die Wirkung des Whistleblower-Gesetzes schon vor dem Start des Meldeportals als wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Zum einen haben viele Menschen über die entsprechende Berichterstattung überhaupt erst erfahren, was Whistleblower eigentlich sind. Zum anderen hilft die Idee mit der Belohnung enorm, um Whistleblowing in den Augen der Ukrainer zu etablieren.
Es gab aber auch negative Folgen. Einigen ist immer noch nicht ganz klar, unter welchen Bedingungen sie an die Belohnung kommen können und dass nicht jeder Hinweis Geld einbringt. Die Antikorruptionsbehörden werden daher mitunter von Meldungen überlastet, die mit ihrer Zuständigkeit kaum etwas zu tun haben. Auch gibt es Fälle, bei denen Angestellte ihre Unternehmen melden, um zum Beispiel eine rechtlich korrekte Entlassung oder Gehaltskürzung zu verhindern oder sich zu rächen. Aus Sicht der Behörden ist das Melde-Spam - dann muss die Führung des Unternehmens beweisen, dass die Person kein echter Whistleblower ist und lediglich sich selbst schützen will.
Es gibt Fortschritte - aber auch spektakuläre Korruptionsfälle
Laut einer Umfrage der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa aus dem Frühjahr halten 84 Prozent der Ukrainer es auch in Zeiten des russischen Angriffskrieges für nötig, Korruptionsfälle zu veröffentlichen und über diese zu diskutieren. Tatsächlich macht die Ukraine Fortschritte: Dem jüngsten Bericht der "Group of States against Corruption" (GRECO), der alle Staaten des Europarates und die USA gehören, aus dem März 2023 hat Kiew seit Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion Reformen umgesetzt, die fünf Jahre zuvor bewusst oder unbewusst ignoriert worden waren. Auch wurde die Ukraine von der sogenannten "schwarzen Liste" gestrichen, auf sie 2021 gelandet war.
Trotzdem ist Korruption mit dem 24. Februar 2022 nicht aus der Ukraine verschwunden. Anfang des Jahres gab es eine große Debatte darüber, dass Lebensmittel für Soldaten in entlegeneren Regionen zu überhöhten Preisen eingekauft worden waren. Erst neulich hat Präsident Selenskyj alle Chefs der regionalen Rekrutierungsbüros entlassen - nach durchwachsenen ersten Teilergebnissen einer landesweiten Überprüfung. Die war eingeleitet worden, nachdem ein Fall aus Odessa bekannt wurde. Dort soll Jewhen Borissow, Chef des Einberufungsamtes der Hafenstadt, sich um umgerechnet mindestens 4,6 Millionen Euro bereichert haben. Sein Geschäftsmodell: Er soll sich dafür bezahlt haben lassen, Männer für wehruntauglich zu erklären. Bei der Versorgung der Armee mit Erste-Hilfe-Sets sind ebenfalls ungemütliche Korruptionsdelikte aufgefallen. Auch in diesem Bereich soll das neue Whistleblower-Portal für mehr Transparenz sorgen.
Am Sonntagabend kündigte Selenskyj in einem Interview im ukrainischen Fernsehen eine neue Initiative an: Er wolle dem ukrainischen Parlament vorschlagen, für die Zeit des Kriegsrechts Korruption mit Verrat gleichzusetzen - auf Verrat stehen deutlich höhere Strafen. Binnen einer Woche werde er dem Parlament einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten, sagte Selenskyj. Er verstehe, dass eine solche Maßnahme nicht dauerhaft eingesetzt werden könne, "aber für die Kriegszeit wird es helfen", so der Präsident. "Das wird ein sehr ernstes Werkzeug sein, damit sie [mögliche Täter] nicht einmal darüber nachdenken. Wenn es Beweise gibt, muss man hinter Gitter. Wir müssen systematische Dinge einführen, Systemlösungen. So bekämpft man Korruption."
Quelle: ntv.de