Eigene Meinung wird verschwiegen Wie es Owssjannikowas Kollegen jetzt geht
16.03.2022, 17:42 Uhr
Am Montag stürmt Marina Owssjannikowa mit einer Protestbotschaft die Nachrichtensendung des Kreml-nahen Senders "Kanal Eins". Sie wird verurteilt, eine härtere Strafe droht. Auch andere Mitarbeiter sollen ihrer Meinung sein, verrät eine Kollegin. Sie bleiben aber trotzdem beim Sender.
Seit vergangenen Montag wird Marina Owssjannikowa nahezu weltweit als Heldin gefeiert. Die russische Regierung hingegen war entsetzt, als die Angestellte des Kreml-nahen TV-Senders "Perwy kanal" ("Kanal Eins") während der Hauptnachrichten plötzlich hinter der Sprecherin auftauchte. In der Hand hielt sie nämlich ein Pappschild, auf dem die Worte "Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen" zu lesen waren.
Nach diesem Auftritt wurde die 44-Jährige sofort verhaftet, überraschend schnell zu einer Ordnungsstrafe von 30.000 Rubel (circa 226 Euro) verurteilt und wieder freigelassen. Allerdings droht der zweifachen Mutter vermutlich noch eine Anklage auf Grundlage des neuen Mediengesetzes, wie ihr Anwalt befürchtet. Dieses Gesetz hatte Präsident Wladimir Putin erst Anfang des Monats erlassen. Es sieht bis zu 15 Jahre Haft für die Verbreitung von "Falschnachrichten" vor.
Bei Meduza, einem der größten unabhängigen russischen Onlinemedien, ist jetzt zu lesen, dass Marina Owssjannikowas Ablehnung des russischen Angriffs auf die Ukraine unter den Mitarbeitern des Staatsfernsehens keine Seltenheit ist. Das soll eine ehemalige Mitarbeiterin des Senders verraten haben. Und doch ist Owssjannikowa bislang die Einzige, die sich öffentlich gegen die russische Propaganda auflehnte.
"Sie haben Angst, zu gehen"
Laut der ehemaligen "Kanal Eins"-Mitarbeiterin arbeiten einige dort nur, weil es zu wenig andere Jobs in der Medienbranche gibt. "Zahlreiche Leute dort sind gegen den Krieg in der Ukraine", wird die Frau zitiert. "Aber sie können nicht gehen oder haben Angst, zu gehen, weil sie Kinder oder Eltern haben, um die sie sich kümmern müssen. Sie haben Hypotheken, ihre Ersparnisse sind dezimiert. Oder sie fürchten Arbeitslosigkeit und schwarze Listen." Im Studio seien Monitore, auf denen Berichte der Nachrichtenagenturen Reuters und AP laufen, während die Angestellten von oben Richtlinien und geskriptete Geschichten erhalten, die völlig realitätsfern sind.
Owssjannikowa wollte da wohl nicht mehr mitmachen. Dabei verfolgte sie bis zu diesem Tag ihre Karriere recht zielstrebig, wie frühere Mentoren und Kollegen der 44-Jährigen auf Nachfrage von Meduza berichteten. Nach ihrem Studium an der staatlichen Universität Kuban im südrussischen Krasnodar arbeitete Owssjannikowa demnach beim Regionalsender Kuban TV. "Damals waren wir noch sehr junge, ambitionierte Studenten, bereit, Tag und Nacht, egal ob Wochenende oder Feiertag, beim Regionalfernsehen zu arbeiten", soll sie einmal selbst über diese Zeit gesagt haben.
Sie wurde Schützling des damaligen Sender-Managers Wladimir Runow. Er bezeichnete sie laut Meduza jetzt als "vernünftige junge Frau", die "schwer zu stoppen" sei und immer auffallen wollte. Er missbilligte dennoch ihren Protest im Fernsehen. "Ich sehe weder Heldentum noch Mut in dem, was sie getan hat", wird er in dem Artikel zitiert. Dank Runows Empfehlung folgte für Owssjannikowa ab 2001 eine journalistische Ausbildung an der Russischen Präsidialakademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung. 2005 bekam sie den Job bei "Kanal Eins", wofür sich ihr damaliger Ehemann Igor einsetzte, so Meduza. Seine Mutter arbeitete ebenfalls dort.
Sie arbeiten "leise und ohne Fragen"
Zhanna Agalakova, Sonderkorrespondentin von "Kanal Eins" mit Sitz in Paris, sagte zu Meduza, Owssjannikowa sei eine "vernünftige und angenehme" Kollegin gewesen, aber die beiden hätten nur selten miteinander zu tun gehabt. Sie selbst kündigte am 3. März, ihr letzter Arbeitstag ist Ende der Woche. "Meine Freiheit kommt am Freitag", so Agalakova. "Ich kann es kaum erwarten." Auf die Frage, warum sie sich zur Kündigung entschieden habe, sagte sie nur: "Ich denke, die Antwort liegt auf der Hand."
Die Geschäftsführung des Senders soll den Mitarbeitern gesagt haben, das Leben normalisiere sich wieder, sobald Selenskyj fort sei. Das Durchhaltevermögen des ukrainischen Präsidenten aber habe die Nerven von jedem mit "Köpfchen und Zugang zu echten Informationen" strapaziert. Zwei Quellen bei "Kanal Eins" teilten Meduza außerdem mit, dass sich im Studio nichts geändert habe seit Owssjannikowas Protest. "Die Leute arbeiten, und sie haben keine neuen Anweisungen von oben bekommen. Sie arbeiten wie Fabrikarbeiter - leise und ohne Fragen."
Meduza selbst muss dieser Tage darum kämpfen, weiterarbeiten zu können, denn die Seite wurde in Russland seitens der Regierung bereits geblockt. Die Redaktion musste das Land verlassen und bat zuletzt europäische Nachbarn um Hilfe, um weiter unabhängig berichten zu können. Schon im April 2021 wurde das Medium vom russischen Justizministerium als "ausländischer Agent" eingestuft - eine Bezeichnung, die vor allem bei Kreml-kritischen Medien, Journalisten und anderen Organisationen angewandt wird und deren Arbeit beinahe unmöglich macht.
Quelle: ntv.de