Politik

Kinder oder Terroristen Wie gefährlich sind die freigelassenen Palästinenser?

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Propagandasieg: Jubel mit Hamas-Flaggen im eigentlich vom Rivalen Fatah dominierten Ramallah.

Propagandasieg: Jubel mit Hamas-Flaggen im eigentlich vom Rivalen Fatah dominierten Ramallah.

(Foto: REUTERS)

Schon einmal ließ Israel im Gegenzug für einen von der Hamas entführten Israeli palästinensische Häftlinge frei. Einer von ihnen gilt nun als Drahtzieher des Massenmordes vom 7. Oktober. Kann sich die Geschichte jetzt wiederholen? Oder kommen diesmal lediglich Opfer einer Willkürjustiz frei?

Israel ist mit der Terrororganisation Hamas einen Deal eingegangen: Für jede israelische Geisel, die die Islamisten freilassen, entlässt Israel drei palästinensische Häftlinge. Die Darstellungen, um wen es sich bei diesen Häftlingen handelt, klaffen weit auseinander. Während Israel von verurteilten und angeklagten Terroristen spricht, betonen palästinensische Darstellungen, dass es sich um Kinder und Frauen handelt, die Opfer einer Willkürjustiz der israelischen Besatzer seien. Einer genauen Betrachtung halten beide Positionen nicht stand.

Vor Beginn der Feuerpause und des Austausches hat das israelische Justizministerium eine Liste von 300 Gefangenen vorgelegt, die die Bedingungen der Abmachung erfüllen: Frauen und Häftlinge im Alter von bis zu 18 Jahren. Läuft der Austausch innerhalb der viertägigen Feuerpause planmäßig, dürften 150 von ihnen im Gegenzug für 50 israelische Geiseln der Terroristen freikommen. Bei der großen Mehrheit der gelisteten Häftlinge handelt es sich tatsächlich um Jugendliche und Erwachsene im Alter von 17 oder 18 Jahren. Der jüngste Gefangene ist 14 Jahre alt. Das heißt, strafunmündige Kinder sind nicht darunter.

Häftlinge, die man nach rechtsstaatlichen Maßstäben als Straftäter oder gar Terroristen bezeichnen könnte, sind allerdings auch nur eine Minderheit unter den Freizulassenden. Rund 50 von ihnen sind von einem Gericht verurteilt worden. Der Rest sitzt, teilweise seit mehr als einem Jahr, in Untersuchungshaft. Von den Verurteilten wiederum wurden die meisten von der israelischen Militärjustiz im besetzten Westjordanland abgeurteilt. Dieses Justizsystem ist Teil des israelischen Militärs und erfüllt, der einhelligen Einschätzung israelischer, palästinensischer und internationaler Menschenrechtler zufolge, nicht die Maßstäbe einer rechtsstaatlichen Justiz. Erzwungene Geständnisse, Verhöre ohne Rechtsbeistand oder von Minderjährigen ohne Eltern sind vielfach dokumentiert. Immer wieder sprechen diese Gerichte monate- oder jahrelange Haftstrafen aus für jugendliche Angeklagte für Vergehen wie Steinwürfe gegen Soldaten oder auch einzelne Posts in sozialen Netzwerken. Auch auf der Liste möglicherweise freizulassender Personen sind Gefangene mit solchen Vergehen aufgelistet. Da nur Palästinenser, nicht jedoch Siedler oder andere Israelis im Westjordanland diesem Militärjustizsystem unterworfen sind, trägt es auch dazu bei, dass Israel immer wieder der Vorwurf gemacht wird, ein Apartheidsystem errichtet zu haben.

Mörder und administrative Häftlinge nicht Teil des Deals

Nicht Teil des Deals mit der Hamas sind palästinensische Häftlinge in sogenannter administrativer Haft. Diese international hochumstrittene Praxis ermöglicht es Israel, Palästinenser auf unbestimmte Zeit in Haft zu halten, ohne ihnen auch nur die gegen sie erhobenen Vorwürfe mitzuteilen. Die israelischen Behörden begründen dies damit, dass sie in manchen Fällen Geheimdienstmitarbeiter und deren Quellen schützen müssten. Im Zuge von Verhaftungswellen im Westjordanland seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober dieses Jahres ist die Zahl der administrativen Häftlinge laut der israelischen Menschenrechtsorganisation HaMoked von rund 1300 auf mehr als 2000 angestiegen.

Bedenken, dass radikale Gewalttäter im Zuge des Deals freikommen, sind allerdings keineswegs aus der Luft gegriffen. Einige auf der israelischen Liste aufgeführte Häftlinge sitzen Strafen von bis zu 16 Jahren wegen versuchten Mordes ab, darunter etwa Messerangriffe auf Zivilisten. Wegen vollzogenen Mordes verurteilte Terroristen sind allerdings nicht Teil des Austausches.

Um auf die Gefahr hinzuweisen, die die Freilassung potenziell gewalttätiger Gefangener darstellt, wird immer wieder das Beispiel von Jahja Sinwar angeführt. Der wegen mehreren Morden an anderen Palästinensern verurteilte Sinwar wurde 2011 als einer von mehr als 1000 Gefangenen im Austausch für den von der Hamas als Geisel entführten Soldaten Gilat Schalit freigelassen und nach Gaza abgeschoben. Er stieg in der Folgezeit zum mächtigsten Mann der Hamas im Gazastreifen auf und gilt als Mastermind hinter dem Terrorangriff vom 7. Oktober.

Mit dem schon damals als "Schlächter von Chan Junis" bekannten Sinwar vergleichbare Terroristen befinden sich dieses Mal nicht auf der Liste freizulassender Häftlinge. Die größte Gefahr für Israels Sicherheit liegt in einem anderen Aspekt des Deals mit der Hamas. Während die Terroristen durch die massiven Zerstörungen mit wohl mehr als 14.000 Toten im Gazastreifen durch den von ihnen ausgelösten Krieg massiv unter Druck stehen, lassen sie sich im Westjordanland und Ostjerusalem nun als Befreier feiern. Das stärkt die Islamisten, deren "Vernichtung" Israels Regierung als Kriegsziel ausgegeben hat, und schafft einen weiteren Präzedenzfall, dass sich Entführungen israelischer Staatsbürger auszahlen.

Quelle: ntv.de, mbo

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