Politik

Krieg, Wahrheit und Faschismus Wie können Sie dieses Russland lieben, Frau Kostjutschenko?

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
"Russland ist nicht nur Putin", sagt Jelena Kostjutschenko. Und: "Aber dieser Krieg wird von unseren Bürgern geführt."

"Russland ist nicht nur Putin", sagt Jelena Kostjutschenko. Und: "Aber dieser Krieg wird von unseren Bürgern geführt."

(Foto: picture alliance/dpa/Pool Sputnik Kremlin/AP)

Die russische Journalistin Jelena Kostjutschenko hat ein Buch geschrieben über "Das Land, das ich liebe". Dieses Land bedroht bis heute ihr Leben, dieses Land führt Krieg gegen die Ukraine, dieses Land ist faschistisch, wie Jelena Kostjutschenko selbst sagt. "Ich glaube, es war diese Liebe, die mich angetrieben hat", sagt sie im Interview mit ntv.de. "Aber ich muss auch zugeben, dass diese Hoffnung mich blind gemacht hat. Das ist die Kehrseite dieser Liebe."

ntv.de: Sie beschreiben in einem Kapitel Ihres Buches, wie Sie mit einer Faszination für den Krieg aufwuchsen, bis Sie mit 14 die Reportagen der Journalistin Anna Politkowskaja über den Tschetschenien-Krieg lasen. Der Bruch, den die Artikel von Anna Politkowskaja bei Ihnen ausgelöst haben, wird von Ihnen nur in einem kurzen Satz angedeutet: "Scheiße." Lag es nur an Anna Politkowskaja und der "Nowaja Gaseta", dass sich alles für Sie änderte?

Jelena Kostjutschenko schrieb 17 Jahre für die russische Zeitung "Nowaja Gaseta", die inzwischen in Russland verboten ist, später für das Exil-Nachrichtenportal Meduza. Seit 2022 lebt Jelena Kostjutschenko selbst im Exil.

Jelena Kostjutschenko schrieb 17 Jahre für die russische Zeitung "Nowaja Gaseta", die inzwischen in Russland verboten ist, später für das Exil-Nachrichtenportal Meduza. Seit 2022 lebt Jelena Kostjutschenko selbst im Exil.

(Foto: Sergey Ponomarev)

Jelena Kostjutschenko: Als ich 14 Jahre alt war, habe ich für eine Lokalzeitung geschrieben. Damals dachte ich gar nicht daran, Journalistin zu werden, ich wollte einfach nur etwas Geld verdienen. Meine Familie war arm und ich wollte mir neue Schuhe kaufen. Eines Tages kaufte ich eine Ausgabe der "Nowaja Gaseta" - zum Glück und durch Zufall. Ich schlug sie auf und stieß auf einen Artikel von Anna Politkowskaja. Er handelte von der "Säuberung" eines tschetschenischen Dorfes, in dem russische Soldaten 36 Menschen getötet hatten. Einen Mann hatten sie gekreuzigt. Sie schrieb auch über einen neunjährigen tschetschenischen Jungen, der seiner Mutter untersagte, russische Lieder im Radio zu hören, weil russische Soldaten seinen Vater verschleppt hatten. Sie schnitten ihm die Nase ab, bevor sie seinen Leichnam zurückbrachten. Das Bild von Russland in diesem Artikel passte in keiner Weise zu dem Bild, das ich in meinem Kopf hatte.

Warum nicht?

Das Fernsehen und andere Zeitungen erzählten uns, dass die russischen Soldaten in Tschetschenien Terroristen und Aufständische bekämpften, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Alle um mich herum glaubten das. Auch in den Büchern, die ich als Kind gelesen hatte, war der Krieg immer als Heldentat des Volkes beschrieben worden. All das Morden und Sterben waren gerechtfertigt, weil die Menschen ihr Leben für ihr Vaterland opferten. Ich konnte diese beiden Bilder nicht zusammenbringen, und doch war mir klar, dass Anna Politkowskaja die Wahrheit sagte. Ich ging also in die Bibliothek und fragte nach allen Ausgaben der "Nowaja Gaseta", die sie hatten, und ich begann, alle ihre Artikel zu lesen. Danach hatte ich das Gefühl, dass ich keine allgemeine Wahrheit mehr hatte.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich war schockiert. Ich war auch wütend auf "Nowaja Gaseta", denn wenn man 14 ist, ist es schön, wenn man mit allen anderen eine gemeinsame Wahrheit teilt. Es ist schön, dazuzugehören. Die Artikel von Anna Politkowskaja waren für mich die ersten Texte, die mir zeigten, wie Krieg wirklich ist - ungerechtfertigte Grausamkeit, willkürliche Morde an Menschen, keine Achtung der Menschenrechte. Sie zeigten mir auch, dass ich nichts über mein Land wusste. Alles, was ich zu wissen geglaubt hatte, waren Lügen. Ich beschloss, dass ich bei "Nowaja Gaseta" arbeiten musste. Drei Jahre später ging ich nach Moskau, studierte Journalismus, verdiente etwas Geld, um mir ein Handy, einen Computer und was zum Anziehen zu kaufen, und fing an, für "Nowaja Gaseta" zu arbeiten.

Anna Politkowskaja wurde 2006 in Moskau ermordet.

Anna Politkowskaja wurde 2006 in Moskau ermordet.

(Foto: picture alliance / dpa)

Würden Sie sagen, dass es sich beim Angriff auf die Ukraine um "Putins Krieg" oder um "Russlands Krieg" handelt?

Putin hat Russland in diesen Krieg geführt. Es war seine Entscheidung. Aber dieser Krieg wird von unseren Bürgern geführt.

Für viele Ukrainer ist Russland das Böse schlechthin. Können Sie diese Haltung verstehen?

Ja, vollkommen. Sie opfern ihr Leben, um ihr Land und ihre Liebsten zu verteidigen. Ehrlich, ich respektiere jedes Gefühl, das Ukrainer haben.

Sie haben eine sehr lakonische und gleichzeitig sehr eindringliche, im wahrsten Sinne des Wortes packende Art zu erzählen. Haben Sie sich bewusst für diesen Stil entschieden oder ist er Ihnen zugeflogen?

Beides, glaube ich. Jedes Kapitel in meinem Buch besteht aus zwei Texten - einem persönlichen Bericht und einem Stück, das in "Nowaja Gaseta" erschienen ist, daher sind die Stile unterschiedlich. Diese persönlichen Essays zu schreiben, war sehr schwer für mich. Es war das erste Mal, dass ich über mich selbst geschrieben habe. Als ich mit der Arbeit an dem Buch begann, hatte ich das Gefühl, im Zentrum der Katastrophe zu schreiben. Ich weiß, dass das für jeden anders ist. Ich für meinen Teil hatte das Gefühl, mich in einer ständigen Traumasituation zu befinden, und in einer solchen Situation ist es schwer, einen Dialog zu beginnen - ein Trauma verengt den Blick. Also beschloss ich, eine Intonation zu finden, die mir helfen würde, mit den Menschen zu sprechen. Eine Intonation, die aus einfachen Worten besteht, ohne Ausschmückungen, ohne Schnörkel.

ANZEIGE
Das Land, das ich liebe: Wie es wirklich ist, in Russland zu leben
11
26,00 €
Zum Angebot bei amazon.de

"Einfach" bedeutet wahrscheinlich nicht, dass es einfach war, so zu schreiben.

Es war sogar ziemlich schwer, diese Einfachheit zu erreichen. Manche Wendungen in der gesprochenen oder geschriebenen Sprache können als Schutzschild dienen, hinter dem man sich verstecken kann, weil sie die Dinge schöner oder erträglicher klingen lassen, als sie tatsächlich sind. Ich beschloss, nichts von alledem zu benutzen, sondern nur einen ehrlichen Blick auf mich selbst zu richten und auf das, was ich gesehen hatte. Ein offenes, ehrliches Gespräch mit den Menschen, die ich anspreche.

In Ihren Reportagen, zum Beispiel der aus der ukrainischen Stadt Mykolajiw vom März 2022 oder auch der über die russischen Prostituierten vom Oktober 2010, lassen Sie über weite Strecken Ihre Protagonisten sprechen. Warum?

Ich wollte, dass ihre Stimmen gehört werden. Ich weiß, dass es im amerikanischen oder im deutschen Journalismus andere Ansätze gibt, und auch im russischen Journalismus ist das so nicht üblich. Aber ich wollte, dass diese Menschen für sich selbst sprechen. Ich wollte nicht so tun, als wäre ich eine super-weise Erzählerin, die alles erklären kann. Ich wollte die Menschen in ihren eigenen Worten erklären lassen, was sie erlebt haben und welche Gefühle sie dazu haben.

Sie bezeichnen das, was in Russland passiert, als Faschismus. Was ist faschistisch an Putin und seinem Regime?

Wenn Russen an Faschismus denken, denken sie an den Zweiten Weltkrieg. Der Begriff ist sehr eng mit Hitlerdeutschland, aber auch mit dem sowjetischen Sieg verbunden. Im Kampf gegen den Faschismus hat fast jede russische Familie Angehörige verloren. Deshalb fällt es den Russen emotional sehr schwer, zuzugeben, dass wir jetzt ein faschistisches Land sind. Meiner Meinung nach entspricht das, was derzeit in Russland passiert, geradezu der Definition von Faschismus.

In welcher Hinsicht?

Moment, ich muss kurz googeln. Hier ist es: "Faschismus ist eine rechtsextreme, autoritäre, ultranationalistische politische Ideologie, die durch einen diktatorischen Führer, zentralisierte Autokratie, Militarismus, gewaltsame Unterdrückung von Opposition, den Glauben an eine natürliche soziale Hierarchie, die Unterordnung individueller Interessen zum vermeintlichen Wohle der Nation oder Rasse und eine starke Reglementierung von Gesellschaft und Wirtschaft gekennzeichnet ist." Das ist ein Zitat aus Wikipedia, und es beschreibt das heutige Russland perfekt. Das Einzige, was nicht ganz passt, ist der Begriff "ultranationalistische Ideologie", aber ich glaube, wir sind auf dem Weg dahin.

Warum passt "ultranationalistische Ideologie" nicht ganz?

Es ist nicht einfach, eine ultranationalistische Ideologie in einem multiethnischen Land durchzusetzen. In Russland leben mehr als 190 Nationen und es gibt viele verschiedene Sprachen. Das russische Regime ist davon besessen, sein gesamtes Territorium zu behalten, und wenn es eine ultranationalistische Ideologie offen verfolgen würde, wäre das nicht möglich. Dennoch gibt es deutliche Anzeichen für eine Hinwendung zu einer nationalistischen Ideologie. Seit 2020, nachdem unsere Verfassung geändert wurde, ist die russische Sprache offiziell als "Sprache des staatsbildenden Volkes" definiert. Es gibt in Russland also eine Nation, die als den anderen überlegen definiert wird.

Es ist mir nicht leichtgefallen, zuzugeben, dass mein Land faschistisch geworden ist. Mein Großvater hat den Faschismus bekämpft und besiegt. Irgendwie hatte ich geglaubt, wenn unser Land eine solche Tragödie überlebt und einen so hohen Preis gezahlt hat, wären wir immun gegen den Faschismus.

Daran glauben Sie nicht mehr.

Ich glaube nicht, dass irgendjemand gegen Faschismus immun ist. Faschismus kann in jeder Kultur und in jedem Land wachsen. Deshalb denke ich, dass mein Buch für verschiedene Leser wichtig sein kann, nicht nur für Menschen, die sich für Russland interessieren. Ich denke, es ist auch für Menschen interessant, die wissen wollen, wie der Faschismus im Alltag aussieht: Was sind die ersten Anzeichen? Wo liegen die Wurzeln? Wie entwickelt er sich? Warum weigern sich die Menschen, ihn zu erkennen und als das zu bezeichnen, was er ist?

In Ihrem Text "Der Faschismus ist längst da (macht die Augen auf)" geht es nicht um Politik im üblichen Sinne, sondern um die Behandlung von Kindern in einem Kinderheim. Was ist daran faschistisch?

Es geht nicht nur um ein Kinderheim. Es geht um das System von Konzentrationslagern, das wir in Russland für Menschen mit psychiatrischen und neurologischen Diagnosen haben. Nicht alle von ihnen sind krank, sie haben nur diese Diagnose. 177.000 Russen leben in diesen Konzentrationslagern, und einige von ihnen sind Kinder.

Konzentrationslager?

Offiziell heißen sie PNI, Psycho-Neurologische Internate. Als ich eine Reportage über diese Einrichtungen machen wollte, habe ich zunächst einige Leute befragt, die etwas darüber wussten. Es waren hauptsächlich Menschenrechtler, Freiwillige und Aktivisten, also dachte ich, na ja, wahrscheinlich übertreiben sie ein wenig, damit die Leute aufmerksam werden. Als ich schließlich selbst eine dieser Einrichtungen besuchte, stellte ich fest, dass sie kein bisschen übertrieben hatten - ganz im Gegenteil: Ich glaube, sie erzählten mir nicht alles, weil ich ihnen leidtat, und damit ich nicht ausflippe.

Die Menschen leben in diesen Einrichtungen bis an ihr Lebensende. Es gibt fast keine Möglichkeit, diese Orte zu verlassen. Man hat keine Menschenrechte, wenn man dort lebt. Man darf dort nicht über die einfachsten Dinge entscheiden - wie lang das eigene Haar sein soll oder was man essen will. Wenn man negative Emotionen zeigt, kann man medikamentös behandelt werden, in eine psychiatrische Klinik eingewiesen oder in einen Raum gesperrt werden, in dem nichts ist, nur ein Eimer in der Ecke. Frauen können ohne ihre Zustimmung sterilisiert werden. Wenn eine Frau schwanger ist, können sie das Baby abtreiben, ohne sie zu fragen. Die Menschen, die dort leben, haben kein Recht auf irgendeine Art von Beziehung. Es ist ihnen nicht erlaubt, Sex zu haben oder jemanden zu lieben und mit ihm oder ihr zusammen zu sein. Es gibt viel Gewalt, Menschen werden verprügelt und vergewaltigt. Nachdem ich dort war, konnte ich nicht mehr leugnen, dass es in Russland Faschismus gibt.

Und doch haben Sie Ihr Buch "Das Land, das ich liebe" genannt. Im Vorwort schreiben Sie, dass Sie verstehen wollen, "wie ich angefangen habe, mein Land zu lieben". Ich habe in dem Buch aber keine direkte Erklärung dafür gefunden, was an Russland liebenswert ist - stattdessen ist es voll von Geschichten, die eine Menge Gründe liefern, Russland nicht zu lieben. Wie haben Sie angefangen, Ihr Land zu lieben?

Ich glaube, das kommt einfach von Herzen. Man hat eine Mutter, die man liebt, und ein Zuhause, das man liebt. Für diese Art von Liebe braucht man keinen Grund. Wenn man erkennt, dass nicht alles an ihnen toll ist, liebt man sie trotzdem. Was ich an Russland liebe, sind die Menschen. Als ich in Russland gelebt und gearbeitet habe, habe ich so viele grausame und ungerechte Dinge gesehen. Aber ich habe auch viel Freundlichkeit und Mitgefühl gesehen und Kampf für die Liebe und für eine bessere Zukunft. In meinem Herzen gehört das alles zusammen. Ich kann keinen Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Russland machen. Was mir wirklich wichtig ist: Russland ist nicht nur Putin. In Russland leben 147 Millionen Menschen, und sie alle sind unterschiedlich. Ich hoffe, dass ich in dem Buch einige von ihnen gut genug beschrieben habe, damit die Leute sehen können, dass Russland nicht nur aus Angst, Gewalt und Dunkelheit besteht, dass es auch Licht, Liebe und Würde gibt. Wie die Frauen aus Beslan, die sich weigerten, ihre Kinder zu vergessen, die 2004 von russischen Sicherheitskräften getötet worden waren; Spezialeinheiten hatten ohne jegliche Rücksicht auf zivile Opfer die Schule gestürmt, in der Terroristen Schüler als Geiseln genommen hatten. Diese Mütter wurden verhaftet, weil sie sagten, Putin sei der Schlächter von Beslan. Oder Wassili Rjabinin, der Mann aus Norilsk, wo es 2020 zu einer massiven Umweltkatastrophe kam: 21.000 Tonnen Diesel flossen in einen Fluss, in einen See und schließlich in den Arktischen Ozean. Wassili war regionaler Umweltinspektor. Er wollte kein Held sein, denn, Scheiße, das ist gefährlich, niemand mag Helden, und meistens enden sie schlecht. Aber er beschloss, dass sich nie etwas ändern würde, wenn niemand etwas unternimmt. Das ist es, was ich an dieser Geschichte liebe, deshalb habe ich so gerne an dieser Geschichte gearbeitet: Es kommt nicht oft vor, dass man die innere Entwicklung einer Figur direkt vor sich sieht.

Ich glaube, es war diese Liebe, die mich angetrieben hat. Es ist hart, eine unabhängige Reporterin in Russland zu sein, es ist wie in einem Tarantino-Film: Ständig passieren viele Dinge gleichzeitig, man braucht sehr viel Kraft, um weiterzumachen. Die Liebe gab mir diese Kraft. Sie gab mir auch die Hoffnung, dass am Ende alles gut werden wird. Aber ich muss auch zugeben, dass diese Hoffnung mich blind gemacht hat. Das ist die Kehrseite dieser Liebe.

Sie sind in Russland mehrfach verhaftet worden, im Oktober 2022 hat man wahrscheinlich versucht, Sie zu ermorden, und eines der zentralen Elemente der offiziellen russischen Ideologie ist ein massiver Hass auf Lesben und Schwule. Könnte man sagen, dass Russland hart daran arbeitet, Sie davon abzuhalten, es zu lieben?

Ich mache einen Unterschied zwischen dem russischen Staat und Russland als Land. Ich glaube nicht, dass die Leute, die mich umbringen wollten, Russland sind. Auch nicht die Leute, die mich - ich weiß nicht wie oft - verhaftet haben, oder die, die mich zusammengeschlagen haben. Für mich ist meine Mutter Russland, meine Schwester ist Russland, ich bin Russland. Aber mir ist klar, dass das russische Regime ein völlig anderes Verständnis von Liebe hat - sowohl von Liebe im Allgemeinen als auch von der Liebe zu Russland. Putin sagt, wenn man sein Land liebt, muss man losziehen und Ukrainer töten. Wenn man Russland liebt, dann schweigt man, oder man lügt, wenn es nötig ist. Wenn man Russland liebt, gehorcht man. Aber die Wahrheit ist, dass die Liebe weder Morde noch Schweigen oder Lügen oder Gehorsam verlangt.

Wie fühlt es sich für Sie an, wenn Sie in Berlin sind und an der russischen Botschaft vorbeikommen?

Ich glaube nicht, dass ich jemals an der russischen Botschaft vorbeigelaufen bin. Ah, doch, ich war sogar mal drinnen. Das war vor dem Krieg, ich war zu Besuch bei einer Freundin und in Russland fanden Wahlen statt. Ich bin in die Botschaft gegangen, um zu wählen. Vor ein paar Wochen habe ich am Brandenburger Tor an einem Treffen für den russischen Journalisten Wladimir Kara-Mursa teilgenommen, der zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt worden ist. Ich habe dort eine Rede gehalten, und während ich sprach, konnte ich die Botschaft sehen. Aber ich habe nicht viel gespürt. Für mich repräsentiert die Botschaft einen Staat, kein Land. Alle Gefühle, die ich gegenüber meinem Staat habe, waren da, wie ein heller Schatten.

Ein anderes Gefühl hatte ich noch. Vielleicht klingt es komisch, aber ich wünschte, ich könnte mit den Leuten sprechen, die in der Botschaft arbeiten. Ich glaube, wir hätten uns einiges zu erzählen. Natürlich weiß ich, dass es für mich nicht sicher wäre, mit ihnen zu kommunizieren. Aber ich würde wirklich gerne wissen, was sie denken und wie sie sich fühlen, wenn sie in Berlin arbeiten und Zugang zu Informationen haben, die viele Russen in Russland nicht haben. Was denken sie über den Krieg? Was denken sie über die Zukunft? Was denken sie über ihre eigene Zukunft? Wie sprechen sie mit ihren Kindern, wie erklären sie ihnen den Krieg? Wie oft weinen sie, worüber weinen sie? All das würde mich sehr interessieren. Und ich würde ihnen gerne sagen, was ich fühle und wie oft ich weine.

Mit Jelena Kostjutschenko sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen