Politik

Krieg um Tigray in Äthiopien "Wir erhalten dramatische Berichte"

Diese Frau und ihr Kind sind aus Tigray in die sudanesische Nachbarregion Region al-Qadarif geflohen.

Diese Frau und ihr Kind sind aus Tigray in die sudanesische Nachbarregion Region al-Qadarif geflohen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Im Vielvölkerstaat Äthiopien tobt ein Krieg um die Region Tigray. Doch die Zentralregierung blockiert den Zugang für Journalisten und Hilfsorganisationen. Jens Hesemann organisiert Hilfe für in den Sudan Geflüchtete. Mit ntv.de teilt der UNHCR-Koordinator seine Eindrücke.

Knapp ein Jahr ist es her, dass Äthiopiens neu gewählter Premierminister Abiy Ahmed den Nobelpreis für seine Friedensbemühungen mit dem Nachbarn und langjährigen Erzfeind Eritrea verliehen bekam. Die internationale Gemeinschaft konnte sich damals nicht vorstellen, dass Abiy knapp ein Jahr später Krieg gegen seine eigenen Bürger im Norden des Landes führen würde. Schlimmer noch: Dass der für seine liberale Politik gepriesene Staatsmann Aufrufe der Staatengemeinschaft ignorieren würde, den Konflikt mit der in Tigray regierenden Volksbefreiungsfront TPLF friedlich beizulegen. Der äthiopische Friedensnobelpreisträger ist nun Kriegsherr. Zehntausende seiner Bürger flüchten vor ihm.

Jens Hesemann vom UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) hat schon so manche Flüchtlingskrise hautnah erlebt: Libyen, Südsudan, Demokratische Republik Kongo, Burundi, Sri Lanka. In diesem Herbst koordiniert er die deutsche Hilfe für die ins Nachbarland Sudan geflüchteten Frauen, Männer und Kinder aus dem äthiopischen Bundesstaat Tigray.

"Ich habe die letzten acht Tage in der Grenzregion verbracht", sagt Hesemann. "Es ist eine dramatische Situation, die sich auch tagtäglich verschlechtert." Am 4. November begann die Offensive der äthiopischen Nationalarmee in dem nördlichen Bundesstaat. Seitdem sind insgesamt 35.000 Tigrayer in den Sudan geflüchtet. Das UNHCR rechnet mit bis zu 200.000 in den kommenden sechs Monaten, wenn der Konflikt nicht schnell beigelegt wird.

Fliehkräfte zerren am Vielvölkerstaat

Die Konflikte innerhalb Äthiopiens mögen vom fernen Europa aus schwer verständlich wirken, aber die Muster dahinter sind durchaus bekannt, etwa aus den Balkankriegen. So wie einst Jugoslawien ist auch Äthiopien ein Vielvölkerstaat. Zehn ethnische Gruppen leben in dem ostafrikanischen Land zusammen. Sie sprechen eigene Sprachen und wollen auch ihre eigene kulturelle Identität wahren.

Jeden Tag fliehen im Schnitt 2300 Menschen aus Tigray in den Sudan.

Jeden Tag fliehen im Schnitt 2300 Menschen aus Tigray in den Sudan.

(Foto: picture alliance/dpa)

Zu den größten Ethnien, denen auch das Recht auf territoriale Selbstbestimmung zugesprochen wurde, gehören die Oromo und die Tigrayer. Premierminister Abiy ist ein Oromo. Die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) stellte die Vorgängerregierung. Die politischen Ziele der beiden könnten nicht unterschiedlicher sein und der Widerstand der TPLF, sich der nationalen Regierung zu unterstellen, nicht größer.

In Tigray fanden Wahlen statt, obwohl Ahmed sie landesweit wegen Corona abgesagt hatte. Trigrays eigene, gut ausgerüstete Sicherheitskräfte sollen laut Zentralregierung eine Kaserne der nationalen Streitkräfte angegriffen haben. Die TPLF bestreitet dies. Die tief sitzende gegenseitige Abneigung beider Parteien findet in der Offensive gegen Tigray ihren vorläufigen Höhepunkt. Die Nationalregierung verfolgt die militärische Übernahme des Bundesstaates. Ziel ist die Absetzung der TPLF. Deren Streitkräfte wiederum verteidigen ihr Territorium. Sie beschießen die Hauptstadt der Nachbarregion Amhara sowie das Nachbarland Eritrea, das einst Teil Äthiopiens war, mit Raketen. Die Sorge vor einem Bürgerkrieg wie in Jugoslawien ist groß. Er könnte die gesamte Region am Horn von Afrika destabilisieren.

Die Menschen sind in Panik

Der wirtschaftlich schwer angeschlagene Sudan bekommt die Auswirkungen schon jetzt zu spüren. Circa 2300 Tigrayer kommen derzeit täglich über die Grenze. Sie versammeln sich an zwei Übergängen, beide völlig ungeeignet, um große Menschenmengen zu versorgen.

Jens Hesemann ist zwar Vollprofi. Dennoch gehen ihm die Gespräche, die er vor Ort mit Tigrayern geführt hat ans Herz. "Wir haben mit einer Familie gesprochen, die ein kleines Baby dabeihatte", sagt Hesemann zu ntv.de. "Ich habe sie gefragt, wie alt es ist. Zehn Tage, haben sie gesagt. Das bedeutet, sie sind mit einem Neugeborenen über die Grenze geflüchtet." Das Beispiel zeigt nicht nur das Ausmaß der Angst, die in Tigray herrscht. Sie hat zudem politische Bedeutung: Denn derzeit weiß niemand, was wirklich in Tigray vor sich geht.

Die Zentralregierung von Premier Abiy hat das Internet gekappt. Es sind keine ausländischen Journalisten vor Ort und kritische lokale Journalisten werden verhaftet. Zuletzt traf es Bekalu Alamrew vom privaten Awlo Media Center. Das Komitee zum Schutz von Journalisten verlangt seine sofortige Freilassung. Aber Addis Abeba verwehrt selbst UN-Beobachtern Zugang zu dem Bundesstaat Tigray.

Bilder der äthiopischen Nachrichtenagentur zeigen Soldaten im Panzerfahrzeug.

Bilder der äthiopischen Nachrichtenagentur zeigen Soldaten im Panzerfahrzeug.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Vereinten Nationen drängen auf die Einrichtung eines Korridors, um die Bevölkerung mit Hilfsgütern zu versorgen. Aber mit Premierminister Abiy ist nicht zu reden. Die Informationen der TPLF wiederum sind schwer zu verifizieren und verfolgen eindeutig propagandistische Ziele. Deshalb sind Hesemanns Schilderungen von großer Bedeutung. Sie legen nah, dass äthiopische Truppen in Tigray rücksichtlos gegen die Bevölkerung vorgehen, grausam und tödlich.

Heikles Terrain für Nichtregierungsorganisationen

"Was bei allen, mit denen ich gesprochen habe durchkommt, ist ein Gefühl der tiefen Angst. Viele sagen ihre Flucht war eine Frage von Leben und Tod. Sie berichten von einem Zustand des Krieges", berichtet Hesemann. Viele Menschen hätten sich tagelang in der Wildnis versteckt, um Angriffen der Soldaten zu entkommen. "Das sind ganz dramatische Berichte, die wir da erhalten", sagt Hesemann. Es sind Zeugnisse aus erster Hand, kein Hören-Sagen.

"Ich habe mit einer Person geredet, die bei einer Bank gearbeitet hat, in einer Stadt in Äthiopien", sagt Hesemann. "Diese Person hat mir erzählt, dass sie mit einem Bekannten auf der Straße spazieren ging. Plötzlich gab es einen Zwischenfall und ihr Bekannter ist dabei gestorben. Sie konnte sich gerade noch so retten."

Abiy Ahmed bei der Verleihung des Friedensnobelpreises im Dezember 2019.

Abiy Ahmed bei der Verleihung des Friedensnobelpreises im Dezember 2019.

(Foto: picture alliance/dpa)

Hesemann erwähnt bewusst nicht den Namen der Stadt, noch dass sie in Tigray liegt, was natürlich naheliegt. Auch auf unsere Nachfrage gibt er keine Details über den tödlichen "Zwischenfall" preis. War es ein Luftangriff? War es ein Angriff der äthiopischen Armee auf offener Straße? Wie viele Tote gab es? UNHCR will nicht Partei ergreifen. Zwischen den Zeilen liest sich aber eindeutig, in Tigray findet derzeit schreckliches statt, und zwar vonseiten äthiopischer Sicherheitskräfte.

Vierzig Prozent der Geflüchteten sind Kinder und es kommen außergewöhnlich viele junge Männer über die Grenze. Hesemann zufolge berichten die Männer, sie würden gezielt verfolgt, weil sie als Sympathisanten der TPLF gelten.

Wie viele Menschen bisher in Tigray starben, ist unklar. Es wird immer wieder von mehreren Hundert berichtet. Amnesty International berichtet zudem von einem Massaker, das am 9. November stattgefunden haben soll. Doch selbst Hilfsorganisationen, die seit Jahren in Äthiopien arbeiten und Journalisten mit Informationen versorgen, sind in diesen Tagen still geworden. Die Angst vor der Zentralregierung ist groß und die Möglichkeit, die Lizenz für Hilfsprojekte entzogen zu bekommen, real.

Vorerst ist es unmöglich in Äthiopien selbst zu helfen. Also richten sich alle Augen auf die Flüchtlinge im Sudan. Der hat in den vergangenen Jahren schon eine Million Menschen aufgenommen, vorwiegend aus Eritrea, Syrien, dem Tschad und Südsudan. Zusätzlich gibt es 2,4 Millionen interne Vertriebene. "Wir hatten einen Notfallplan für Flüchtlingsströme aus Äthiopien, der aber nicht genau auf diese Krise ausgelegt war", sagt Hesemann. Die Logistikkette sei nun aber in Gang gesetzt, Hilfsgüter werden eingeflogen. Es wird noch dauern, bis die Tigrayer wirklich Hilfe bekommen.

Quelle: ntv.de

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