Nach Einnahme der Region Luhansk Wo Moskau als Nächstes zuschlagen könnte
08.07.2022, 21:55 Uhr
Russische Truppen in der Ukraine auf dem Weg an die Front.
(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)
Mit dem Fall von Lyssytschansk kontrolliert Russland die Region Luhansk. Der österreichische Oberst Markus Reisner rechnet nun mit einer Offensive in der Region Donezk. Aber auch andere Gebiete der Ukraine könnten in den kommenden Monaten in den Fokus rücken, meint der Militärexperte.
Seit dem Rückzug aus dem Raum Kiew konzentrieren sich Moskaus Streitkräfte in der Ukraine auf die Eroberung des Donbass. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten und dem missglückten Zangenangriff in der Region Donezk erzielten die russischen Streitkräfte in den vergangenen Wochen dank ihrer Artillerieüberlegenheit schrittweise Geländegewinne. Am Sonntag verkündete der Kreml nach dem Fall der Zwillingsstädte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk die "Befreiung" der gesamten Region Luhansk.
Damit stellt sich die Frage, welche Ziele die russischen Truppen als Nächstes ins Auge fassen könnten. Neben anderen Experten geht auch der österreichische Oberst und Militärhistoriker Markus Reisner davon aus, dass nun Donezk in Moskaus Fokus gerät. Die Donbass-Region ist bereits etwa zur Hälfte von russischen Truppen besetzt.
Für die Abwehr des russischen Angriffes würden sich laut Reisner zwei Verteidigungslinien als günstig erweisen. Die vorderste Linie, auf die sich die ukrainischen Truppen aus Lyssytschansk zurückgezogen haben, verlaufe von Sewersk in Richtung Süden ins gut 38 Kilometer entfernte Bachmut. "Die zweite Verteidigungslinie in der Tiefe, die sich vor allem deswegen günstig darstellt, weil sie wie eine Perlenkette urbane Räume aneinanderreiht, geht von Slowjansk und Kramatorsk hinunter nach Torezk", erklärt Reisner in einem Video auf dem YouTube-Kanal des österreichischen Bundesheeres.
Allerdings stelle sich die Frage, wie viele einsatzbereite Kräfte Kiew noch zur Verfügung stehen. Sollte es der Ukraine nicht gelingen, eine gefestigte Verteidigungslinie zu errichten, würden die Russen versuchen, das Momentum auszunutzen, um sofort nachzustoßen. "Ein Frontalangriff wäre eine Möglichkeit", sagt Reisner. Denkbar wäre auch eine Umfassung der Linien von Norden her aus dem Bereich Isjum. Berichten zufolge ziehen Moskaus Militärplaner dort bereits Kräfte zusammen. Ein russischer Vorstoß in die Tiefe würde die russischen Einheiten wegen der offenen Flanken allerdings auch verwundbar machen.
Reisner: Ohne Hilfe übersteht die Ukraine den Winter nicht
Schätzungen zufolge verfügte die Ukraine vor Beginn der Schlacht um den Donbass über etwa 81 Bataillonskampfgruppen, wohingegen Russland 93 Gruppen ins Feld führte. In den vergangenen Wochen habe Moskau seine Verbände um etwa 15 weitere Bataillone verstärkt, während die ukrainischen Einheiten durch die Gefechte zunehmend geschwächt worden seien. "Natürlich muss man berücksichtigen, dass beide Seiten Verluste erlitten haben", sagt Reisner. "Aber man sieht, dass die ukrainische Seite Schwierigkeiten hat, zusätzliche Kräfte heranzuführen." Russland könne hingegen immer noch Material und Personal nachschieben.
Neben dem Donbass bezeichnet Reisner auch die Situation in der Region Cherson als problematisch. Dort haben Russlands Truppen bereits einen Brückenkopf über den Dnepr gebildet. Von dort sei im kommenden Frühjahr der Start einer Offensive Richtung Odessa oder Kiew denkbar. "Bis zum Ende des Sommers werden beide Seiten versuchen, auf dem Gefechtsfeld eine Entscheidung zu ihren Gunsten herbeizuführen", meint Reisner. Der Winter werde dann die Kampfhandlungen zum Erliegen bringen.
Während sich Russlands Armee konsolidieren und Kräfte für eine Frühjahrsoffensive sammeln könne, müsse Kiew "35 Millionen Ukrainer" durch die kalte Jahreszeit bringen. Dabei sei das Problem, dass sich ein Großteil der Weizenanbaugebiete in den besetzten Gebieten im Süden und Osten des Landes befinde. "Die Ukraine hat das Problem, dass sie ohne massive Unterstützung des Westens nicht den Winter übersteht, aber auch nicht in der Lage ist, weiter den Kampf gegen Russland zu führen", stellt Reisner klar.
Quelle: ntv.de, jpe