Karten zur Schlacht um Awdijiwka Wo Russland zum Sturm ansetzt
26.01.2024, 19:17 Uhr Artikel anhören
Ukraine im zweiten Kriegswinter: "Schwierige Lage" bei Awdijiwka.
(Foto: REUTERS)
Brutale Gefechte im Osten der Ukraine: Russische Truppen rücken bei Awdijiwka ohne Rücksicht auf Verluste gegen die ukrainischen Linien vor. Ende Januar wechseln die Angreifer ihre Strategie. Ein Blick auf die Karte liefert Hinweise zu den russischen Angriffsplänen.
In der Schlacht um Awdijiwka zeichnet sich Bewegung ab: Knapp dreieinhalb Monate nach Beginn der russischen Offensive Anfang Oktober hat Moskaus Invasionsarmee offenbar eine Schwachstelle in den ukrainischen Verteidigungslinien gefunden. Russische Stoßtruppen nähern sich Ende Januar an mehreren Stellen der Stadtgrenze.
Die Vorstöße kommen - anders als bisher - nicht aus den Flanken im Westen oder Norden der Stadt. Diesmal zielen die russischen Angriffe übereinstimmenden Berichten zufolge von Süden direkt aufs Stadtzentrum. Entlang kleiner Nebenstraßen arbeiten sich einzelne Stoßtrupps gedeckt durch schwere Artillerie durch verlassene Vorortsiedlungen hindurch nach Norden vor. An der Sobornaja-Straße scheint ihnen dabei ein größerer Durchbruch gelungen zu sein.
Eine kühne Kommandoaktion könnte den Angreifern einen entscheidenden Vorteil verschafft haben: Durch eine alte, teils geflutete Kanalröhre sei russische Infanterie im Untergrund unerkannt in den Rücken der Verteidiger gelangt, berichtete die "Kyiv Post" unter Berufung auf russische Quellen. Dadurch sei es den Angreifern gelungen, fast zwei Kilometer tief hinter die ukrainischen Linien vorzudringen und die zur Festung ausgebaute Stellung am Stadtrand zu erobern.
Industrieanlagen erweisen sich als Bollwerk
Die Berichte klingen plausibel: Tatsächlich weist der Frontverlauf im Süden der Stadt seit einigen Tagen eine bedrohliche neue Ausbuchtung auf. Die russischen Angriffe an der Erdoberfläche sind anhand von veröffentlichtem Videomaterial gut belegt: Mitte der Woche war es einer russischen Vorhut laut ukrainischen Angaben an dieser Stelle sogar gelungen, erstmals bis ins Stadtgebiet von Awdijiwka vorzudringen. Nur mit Mühe konnten die Ukrainer den Angriff zum Halten bringen. Die Lage bleibe "schwierig, aber unter Kontrolle", hieß es.

Satellitenfoto mit eingezeichnetem Frontverlauf: Aus dem All sind die Spuren der russischen Angriffe in der Landschaft nur bei näherem Hinsehen zu erkennen.
(Foto: ntv.de | © ESA, Sentinel Hub)
Der Frontverlauf ist im Süden näher an Awdijiwka herangerückt. Gleichzeitig lassen die Russen in ihren Bemühungen nicht nach, die einst gut 30.000 Einwohner zählende Kleinstadt in ihrer weitgespannten Zangenbewegung zu umfassen. Im Lagebericht des ukrainischen Generalstabs werden hier weiterhin täglich neue Angriffe gemeldet.
Insgesamt bleiben die russischen Geländegewinne bei Awdijwka überschaubar. An den Frontabschnitten im Norden und Westen der Stadt zum Beispiel hat sich seit Beginn der russischen Großoffensive wenig geändert. Selbst am Bahndamm bei Stepowe - seit Wochen Schauplatz intensiver Gefechte - konnten die Russen ihre vordere Linie nur um gut zwei Kilometer nach Westen verschieben. Die ausgedehnten Industrieanlagen der einst größte Kokerei der Ukraine erweisen sich als sicheres Bollwerk.
Am linken Flügel kommen die russischen Umfassungsversuche sogar noch schlechter voran. Die örtlichen Gegebenheiten begünstigen hier die Verteidiger: Nördlich der Flughafenruine beginnt bei Wodjane und Opytne offenes, flaches Land. Schmale Heckenstreifen bieten dort kaum Deckung, angreifende Kampf- und Schützenpanzer sind für die ukrainische Panzerabwehr schon aus weiter Entfernung zu erkennen.
Dagegen scheint der Vormarsch aus Süden durch die in Trümmern liegenden Vorortsiedlungen aus russischer Sicht mehr Erfolg zu versprechen. Das Vorgehen gleicht dem bekannten Muster: Ähnlich wie Wochen zuvor in Marjinka oder bei Bachmut kämpfen sich die russischen Angriffsverbände hinter einer Feuerwalze Meter um Meter vor. Sie legen dabei alles in Schutt und Asche, was sich ihnen in den Weg stellt oder dem Gegner Deckung verspricht.
Kampf dreht sich um Hausruinen
Im konzentrierten Trommelfeuer schießen Raketenwerfer, Mörser und schwere Artillerie Straßenzug um Straßenzug sturmreif. Aus der Luft suchen bewaffnete Drohnen das Gelände nach versteckten Verteidigern ab. Sobald die Lage günstig erscheint, schicken die russischen Befehlshaber einzelne Gruppen an Soldaten als Vorhut in die Trümmerwüste. Sobald die Verteidiger das Feuer auf die Angreifer eröffnen, werden sie selbst zum Ziel von Geschütz- und Raketensalven.
Der Kampf im bewohnten Gelände dreht sich nur noch um Hausruinen, gedeckte Unterstände und die wenig erhaltenen Kellerlöcher. In Marjinka machte die russische Angriffstaktik auf diese Weise ganze Wohnstraßen dem Erdboden gleich. Den südlichen Vororten von Awdijiwka droht nun ein ähnliches Schicksal. Seit Tagen feuert die russische Artillerie dort aus allen Rohren vor allem auf die drei Straßen im Viertel an der Sobornaja-Straße.
Im Satellitenbild sind die Spuren der Kampfhandlungen mittlerweile bei den vor Ort herrschenden winterlichen Bedingungen als dunkler Fleck südlich des Stadtzentrums erkennbar. Noch können die Ukrainer die massiven russischen Angriffe aufhalten. Mit der russischen Kommandoaktion im Untergrund verlagert sich der Kampf auch noch ins Kanalisationssystem der Stadt. Für die Ukrainer heißt das, dass sie künftig eine weitere Ebene des Gefechtsfeld im Blick behalten müssen. Der Feind erleide bei Awdijiwka schwere Verluste, heißt es ungerührt aus Kiew. Doch wie lange können die Verteidiger noch durchhalten?
Mit der wachsenden Artillerieübermacht der russischen Militärmaschinerie und einem drohenden Munitionsmangel auf ukrainischer Seite wird die Abwehr zusehends schwieriger - zumal Russland nach der bewährten Strategie des Abnutzungskrieges ohne Rücksicht auf Mensch und Material immer neue Truppen ins Feuer schickt.
Quelle: ntv.de