Taiwans Vertreter im Interview "Xi Jinping schwankt zwischen Westen und Putin"
04.02.2023, 11:07 Uhr
Am 30. Dezember trafen sich Putin und Xi zu einer Videokonferenz.
(Foto: picture alliance / Xinhua News Agency)
Im Interview mit ntv.de zieht Taiwans Repräsentant in Deutschland, Shieh Jhy-Wey, Parallelen zwischen dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und einer möglichen Invasion Taiwans durch die Volksrepublik China. Am Ende verbinde Xi Jinping und Wladimir Putin auch der Gedanke, Identitäten zerstören zu wollen.
ntv.de: Herr Shieh, wie haben Sie in den letzten Wochen die Haltung Deutschlands mit Blick auf die Lieferung von Panzern in die Ukraine verfolgt?
Shieh Jhy-Wey: Wir beobachten sehr genau, wie die Ukraine unterstützt wird. Wir schauen auf zwei Aspekte: die wirtschaftlichen Sanktionen und die Waffenlieferungen. In Taiwan wird darauf geschaut, wer was liefert. Ich weiß, dass dem Bundeskanzleramt oft der Vorwurf gemacht wird, eine zögerliche Haltung zu haben im Vergleich zu den USA oder Polen zum Beispiel.

Shieh Jhy-Wey ist Germanist und der diplomatische Vertreter Taiwans in Deutschland. Da Taiwan und die Bundesrepublik keine offiziellen diplomatischen Beziehungen haben, unterhält Taiwan in Berlin keine Botschaft, sondern eine "Taipeh Vertretung".
(Foto: picture alliance/dpa)
Einige sagen, dass der Bundeskanzler besonnen agiert hat. Andere sagen, dass diese Besonnenheit eher ein Zaudern ist …
Ich kenne die Geschichte Deutschlands und in der Tat muss sich Deutschland, im Vergleich zu anderen Ländern, immer zweimal mehr überlegen, wie es handelt. Vor allem, wenn es um militärische Entscheidungen geht. Das Zögern ist insofern auf den Nationalsozialismus zurückzuführen.
Das heißt?
Von 1933 bis 1945 wurde der Frieden in Europa von Deutschland zerstört. Heute geht es erneut um den Frieden in Europa und dieses Mal könnte man sich aber die Frage stellen: Welchen Beitrag kann Deutschland leisten, damit dieser zerstörte Frieden schnellstmöglich wieder hergestellt werden kann? Der Konsens ist: Man schickt keine Soldaten, aber man liefert Waffen an die Ukraine. Nicht, um Russland anzugreifen, sondern damit die Ukraine in der Lage ist, sich gegen die Angriffe Russlands zu wehren. Dazu muss man Waffen liefern und der Leopard 2 gehört dazu. Auch, damit sich eine Katastrophe wie im Zweiten Weltkrieg nicht wiederholt. Damals durch Nazi-Deutschland und heute durch Putin.
Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin?
Beide beziehen sich in ihrer Argumentation auf ein historisches "Reich" und setzen die jeweiligen "Satellitenstaaten" unter Druck. In Chinas Fall Taiwan, [die uigurische Region] Xinjiang und Tibet. "Xinjiang" bedeutet ja nichts anderes als "Neues Territorium" und der Name "Tibet" ist nicht einmal Chinesisch. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war Tibet gar ein selbstständiges Staatswesen. Von China aus gesehen sind Xinjiang und Tibet "unkultivierte, barbarische Völker". Wer sich nicht beugt, wird als Widersacher eingestuft und das wird nicht geduldet. Dieses "fake" historische Bewusstsein und das "alte und glorreiche" Reich wiederherstellen zu wollen, das ist eine entscheidende Gemeinsamkeit zwischen Xi Jinping und Putin. Xi Jinping hat in seiner Rede auf dem letzten Parteitag - ich habe sie zweimal gelesen - gleich zu Beginn von der "großartigen Renaissance der chinesischen Nation" gesprochen. Seine Rede endet auch mit diesem Satz. Putin hat wiederum beim russischen Geheimdienst KGB gearbeitet. Da muss man schlau, grausam, heimtückisch sein und man muss auch noch lügen können. Lügen für einen "guten Zweck", das kann auch Xi Jinping.
Braucht Wladimir Putin Xi Jinping? Ist er ohne ihn isoliert?
Ja.
Inwiefern?
China kann Putin in vielerlei Hinsicht unterstützen - Rohstoffe, Energie, Waffen. Außerdem untermauern gemeinsame Feinde die Freundschaft. Für Xi Jinping ist es gut, wenn die USA und die NATO durch Putin beschäftigt werden. Allerdings hat sich Xi in den letzten Monaten ein bisschen zurückgezogen bei der Unterstützung Putins. Nicht, weil er plötzlich seinen Sinn für Gerechtigkeit gefunden hat, sondern weil ihm aufgefallen sein muss, dass der Westen ziemlich geeint agiert hat bei der Unterstützung der Ukraine. Je weniger sich Xi Jinping von Putin distanziert, desto schlimmer wird sein Verhältnis zum Westen.
Was heißt das genau?
Xi Jinping schwankt zwischen dem Westen und Putin. Er hat gehofft, dass es Putin gelingt, die Ukraine in ein paar Wochen in die Knie zu zwingen und einzunehmen. Dann hätte er nämlich gesehen: Die Stärke allein genügt schon, um ein kleineres Nachbarland zu annektieren. Wäre es so gekommen, dass die Ukraine - ein vollwertiges Mitglied der UNO - einfach von einem Nachbarn überrannt worden wäre, dann hätte sich Xi gedacht: Warum soll das nicht auch mit Taiwan gehen - einer Demokratie, die noch nicht mal den Beobachterstatus der UNO genießt. Auch deswegen kam es zu der schnellen Unterstützung Taiwans für die Ukraine. Eine Woche nach Beginn des russischen Invasionskriegs waren schon 27 Tonnen medizinisches Material unterwegs von Taiwan in Richtung Ukraine. Es ist eine Art Schicksalsgemeinschaft entstanden zwischen Taiwan und der Ukraine.
Wie würde ein möglicher Angriff auf Taiwan vonstattengehen?
Xi Jinping weiß, dass er einen echten Blitzkrieg führen müsste, der nicht zu einem Krieg ohne Blitz werden darf. Er hat die Fehler Putins gesehen. Xi müsste sehr grausam vorgehen und das kann er. China würde Taiwan dann richtig bombardieren.
Wie würde Xi Jinping das seiner Bevölkerung verkaufen?
Es ist wie bei Putin. Er würde sagen: Ich bin gezwungen, das zu tun. Die Gefahr steht vor der Tür und wenn wir das nicht tun würden, dann wäre es zu spät. Diktatoren brauchen keine Begründungen, sie brauchen nur Ausreden. Er wird sagen, dass Taiwan immer schon mit dem Westen und mit den USA zusammengearbeitet hat, um China zu unterdrücken. Da spielt der gekränkte chinesische Nationalstolz eine Rolle. Der muss wieder poliert werden. Und wer steht da im Wege? Taiwan. Das reicht als Begründung. Die "verräterischen Taiwaner" müssen zurückgeholt werden. Das hat der chinesische Botschafter in Frankreich mal gesagt. Wenn wir Taiwan zurückgeholt haben, dann werden sie danach umerzogen. Bei den Chinesen bedeutet Umerziehung zunächst: Säuberung.
Das wäre dann eine Art Völkermord?
Ja. Ein Genozid.
Unterschätzt Deutschland China?
Bei den Chinesen gibt es nur Gläubiger und Schuldner. Der Gläubiger ist China und der Westen schuldet China etwas. Gemeint ist all das, was im 19. Jahrhundert geschehen ist. Xi Jinping argumentiert: Wir holen nur das zurück, was ihr uns schuldet. Ich will keine Generalanklage gegen die deutsche Politik machen, aber letztlich hat sich das Motto "Wandel durch Handel" als naiv herausgestellt. Man hat sich getäuscht in den Chinesen. Der Fehler war zu sagen, wir schulden den Chinesen etwas, genauso wie zu sagen, wir schulden den Russen etwas.
Welche Form der Unterstützung braucht es aus Deutschland für Taiwan?
Für den Westen wäre es eine Katastrophe, wenn die Chinesen die Handelsrouten rund um Taiwan blockieren könnten. Die Taiwanstraße ist ein Suezkanal hoch 100. Wenn China, das in den letzten Jahren im Südchinesischen Meer bereits durch militarisierte künstliche Inseln eine für die Anrainerstaaten sehr bedrohliche Position erlangt hat, auch noch die Taiwanstraße und den westlichen Pazifik kontrollieren kann, dann würde der Welthandel in die Knie gezwungen.
Die Rolle, die die westlichen Staaten spielen, ist derzeit also eher eine ökonomische und keine militärische. Allerdings muss jetzt bereits die deutliche Unterstützung für Taiwan auch gezeigt werden, bevor es zum Krieg kommt. Deutschland muss seine wirtschaftliche Abhängigkeit von China reduzieren. Dadurch wird Deutschland weniger erpressbar und ist dann eher in der Lage, seine Warnungen in geeinter Absprache mit anderen Alliierten glaubhaft zu formulieren. Prävention ist also ein guter Ansatz.
Was braucht es noch?
Wenn der Krieg doch ausbricht, dann muss es natürlich Sanktionen gegen China geben. Allerdings kann man nur dann wirklich wirksame Sanktionen verhängen, wenn man sich selbst nicht schadet. Die Russen haben den Gashahn zugedreht und die Europäer haben auf einmal Probleme.
Müsste Deutschland auch mit Waffen unterstützen?
Taiwan muss jedenfalls in die Lage versetzt werden, sich zu verteidigen. Vor Bundeskanzler Olaf Scholz hat noch kein Bundeskanzler in der Öffentlichkeit gesagt, dass man es nicht akzeptieren werde, sollte China die Taiwan-Frage gewaltsam lösen wollen. Das haben Frau Merkel und Herr Schröder nicht so deutlich gesagt. Insofern ist das schon ein Zeichen und ganz offensichtlich ist man sich der Lage bewusster geworden.
Mit Shieh Jhy-Wey sprach Philipp Sandmann
Quelle: ntv.de