Ein Jahr Bahnhofseinsturz Zehntausende gedenken der 16 Opfer von Novi Sad
01.11.2025, 17:42 Uhr Artikel anhören
Zum Gedenken strömen Bürger aus ganz Serbien nach Novi Sad. Tausende Studierende kommen zu Fuß oder mit dem Fahrrad in die Stadt.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Vor einem Jahr sterben 16 Menschen, als das Dach des Bahnhofs von Novi Sad einstürzt. Die Katastrophe löst die größte und längste Protestbewegung Serbiens aus. Seit Monaten fordern Demonstrierende Neuwahlen. Doch Präsident Vucic begegnet ihnen mit harter Hand.
Mit 16 Schweigeminuten haben Zehntausende Menschen in der nordserbischen Stadt Novi Sad der 16 Opfer des Bahnhofsunglücks vor genau einem Jahr gedacht. Die Menschenmasse füllte nicht nur den weiten Platz vor dem Bahnhof, sondern auch den kilometerlangen Freiheitsboulevard (Bulevar Oslobodjenje), wie ein Reporter beobachtete. Vor dem Bahnhof, dessen Vordach am 1. November des Vorjahres eingestürzt war und die Opfer unter sich begrub, legten Studierende und Bürger Blumen und Kränze nieder.
In Novi Sad, der zweitgrößten Stadt Serbiens, waren beim Einsturz des Bahnhofsdachs zunächst 14 Menschen, darunter zwei Kinder, getötet worden. Weitere zwei Menschen erlagen später ihren Verletzungen. Der Hauptbahnhof war erst im Juli 2024 nach jahrelangen Renovierungsarbeiten wieder voll in Betrieb gegangen.
Die Tragödie hatte die bisher mächtigste und am längsten anhaltende Protestbewegung in der neueren Geschichte Serbiens ausgelöst. Deren Teilnehmer sehen in der Korruption und Schlamperei unter Präsident Aleksandar Vucic die Ursache für den Einsturz am frisch renovierten Bahnhofsgebäude. Erkenntnisse von Experten weisen gleichfalls auf schwere Mängel bei den Renovierungsarbeiten hin.
Festlicher Empfang in Novi Sad
Zu dem Gedenken versammelten sich Bürger aus ganz Serbien. Tausende Studenten waren zu Fuß und auf Fahrrädern aus allen Landesteilen nach Novi Sad gekommen. Viele von ihnen hatte die Bevölkerung von Novi Sad bereits am Freitagabend festlich empfangen. Auch in den Dörfern auf dem Weg zum Ort des Gedenkens erlebten die zu Fuß Marschierenden einen herzlichen Empfang mit Speis und Trank und einer Schlafstatt.
Die Vucic-Regierung stoppte bereits am Freitagnachmittag den Bahnverkehr zwischen der Hauptstadt Belgrad und Novi Sad. Sie begründete das mit einer "Bombendrohung". Das erscheint insofern nicht glaubwürdig, als die Regierung auch vor früheren Massenprotesten den Bahnverkehr mit derselben Begründung eingestellt hatte. Vucic bestimmt seit 2012 in wechselnden Funktionen die Geschicke Serbiens. Die meisten Entscheidungen trifft er alleine.
Studenten fordern Rechtsstaatlichkeit
Die Proteste begannen knapp zwei Wochen nach dem Unglück von Novi Sad. Initiiert hatten sie Studierende, die ihre Universitäten besetzten und mit Straßenblockaden auf sich aufmerksam machten. Im Vordergrund hatten damals die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit und Rechenschaftspflicht für die Regierenden gestanden. Auch wurde verlangt, dass die Verantwortlichen für den Tod von 16 Menschen, bis hinauf zur politischen Spitze, vor Gericht gestellt werden.
Die beharrlichen Aktionen der Studentinnen und Studenten überzeugten immer mehr Bürger, die sich der Protestbewegung anschlossen. Seit einigen Monaten verlangt die Bewegung vorgezogene Neuwahlen. Beobachter sprechen davon, dass es der Bewegung gelungen sei, eine bisher apathische Bevölkerung wachzurütteln. "Die Bewegung hat Serbien die Hoffnung zurückgegeben", schrieb die unabhängige Wochenzeitung "Vreme" in einem Kommentar in ihrer jüngsten Ausgabe.
13 Anklagen gegen mutmaßliche Verantwortliche
Während sich auch in Belgrad wieder Demonstranten versammelten, nahmen Vucic und mehrere Minister an einer Zeremonie zum Jahrestag des Bahnhofs-Unglücks im Dom der Heiligen Sava teil.
Die serbische Staatsanwaltschaft hatte kurz nach dem Unglück Ermittlungen eingeleitet. Im September erhob die Staatsanwaltschaft dann Anklage gegen 13 mutmaßliche Verantwortliche, darunter gegen den früheren Bauminister Goran Vesic. Die Europäische Staatsanwaltschaft (EPPO) ermittelt zudem wegen des möglichen Missbrauchs von EU-Geldern bei der Renovierung des Bahnhofs.
Die Renovierung des Bahnhofs von Novi Sad ist Teil des Neubaus der Eisenbahnlinie Belgrad-Budapest. Generalunternehmer sind chinesische Unternehmen. Für Vucic handelt es sich um ein Prestige-Objekt. Auf die Proteste reagierte er mit Polizeigewalt, Justizrepressionen und Desinformations-Kampagnen.
Quelle: ntv.de, mwa/dpa/AFP