Bericht aus Poltawa In der Ukraine müssen Juden keine Angst haben


Auch in diesem Jahr pilgerten im September zehntausende Juden zum Grab von Rabbi Nachman in Uman, um dort das jüdische Neujahrsfest Rosch Haschana zu feiern.
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Der israelische Botschafter in Kiew bezeichnet die Ukraine als das "pro-israelischste Land in Europa". Schon vor dem Krieg gab es hier so gut wie keine antisemitischen Straftaten. Die Ukrainer seien zivilisierter geworden, sagt Rita.
Aljona Poschidajewa betet in ihrer Küche über zwei Sabbat-Kerzen. Es ist Freitagabend, zum Sabbat hat sie ihre Freundin Rita und auch mich, den in der Ukraine lebenden Deutschen, eingeladen. Wir wollen über Antisemitismus sprechen, das heißt: über etwas, das es in der Ukraine eigentlich gar nicht gibt.
Der Krieg hat uns einander nähergebracht. Früher hätte sie sich nicht vorstellen können, zusammen mit einem Deutschen auf den Sieg zu trinken, zumal auf einen Sieg gegen die Russen, sagte Aljona mir vor einem Jahr. Eine wirkliche Zeitenwende, ein historischer Moment.
Aljona engagierte sich nach dem Beginn der russischen Invasion in der jüdischen Organisation Chesed in der Flüchtlingshilfe. Eigentlich wollte sie beim Militär dienen, aber man machte ihr schon in der Warteschlange vor der Wehrdienststelle klar, dass sie dafür nicht geeignet sei. In ihrer Freizeit spielt sie im jüdischen Theater von Poltawa, genannt "Jüdisches Glück". Vor der Invasion hatte das Ensemble elf, heute noch sechs Mitglieder.
Auch in der Öffentlichkeit trägt Aljona über dem Pullover einen Davidstern an ihrer Halskette. Niemand hat sie deswegen jemals belästigt. In der damals noch sowjetischen Schule lernte sie zusammen mit muslimischen Kindern, Probleme zwischen ihnen gab es nicht. Trifft sie in der Stadt muslimische Bekannte, Tschetschenen oder Aserbaidschaner, so reden sie normal miteinander oder fluchen sogar freundschaftlich-ironisch, ohne dass sich jemand beleidigt fühlt.
Dass ein Jude Präsident ist, wird nicht als Besonderheit wahrgenommen
Der israelische Botschafter in Kiew, Michail Brodsky, bezeichnete die Ukraine kürzlich als das "pro-israelischste Land in Europa". Er wies darauf hin, dass "die Ukraine zu den wenigen Ländern in Europa gehört, in denen es keine großen Demonstrationen zur Unterstützung der Palästinenser oder der Hamas gibt". Das liegt nicht nur daran, dass die Ukrainer derzeit andere Probleme haben: Der Jüdische Weltkongress zählt die Ukraine schon lange zu den Ländern, in denen keine antisemitische Gewalt stattfindet. Juden und Muslime kämpfen gemeinsam in der Armee. Jüdinnen und Juden helfen ukrainischen Nationalisten, auch dem oft als rechtsradikal bezeichneten Regiment Asow, in dem Ukrainer, Russen, Juden und Tschetschenen gegen den gemeinsamen Feind kämpfen. "Wir haben größere Probleme als Antisemitismus", sagt Aljona und lacht sarkastisch, denn das allein ist es nicht.
In der Ukraine leben etwa 270.000 Juden, drei Mal so viele wie in Deutschland, bei einer nur halb so großen Bevölkerung. In Deutschland werden an manchen Tagen Dutzende anti-israelische Straftaten gezählt, wie das Verbrennen der israelischen Flagge, antisemitische Schmierereien an Hauswänden und Geschäften oder Verstöße gegen das Versammlungsgesetz. Wie froh wären Juden in Deutschland, könnten sie am Ende eines Jahres feststellen, es habe keinen einzigen Fall von antisemitischer Gewalt gegeben, wie das die Vereinigte Jüdische Gemeinde der Ukraine im Jahr 2018 konstatierte.
Vor ein paar Jahren ergab eine Umfrage in 18 europäischen Ländern, dass antisemitische Einstellungen in der Ukraine am niedrigsten sind (fünf Prozent der Bevölkerung). Selbst jetzt, während des Kriegs, pilgerten zehntausende chassidische Juden unbehelligt in die ukrainische Stadt Uman, um dort das jüdische Neujahrsfest Rosch Haschana zu feiern. Dass ein Jude Präsident ist, wird von Ukrainern nicht als Besonderheit wahrgenommen. Selbst die schärfsten Kritiker des Präsidenten haben niemals antisemitischen Anspielungen verwendet, das wäre von der Bevölkerung auch nicht goutiert worden.
Zwei Tage zuhause, man weiß ja nie
Aljona war in ihrer Jugend eine erfolgreiche Leichtathletin, Fußballerin und Hockeyspielerin. Mit ihrem Heimatverein Junost Poltawa belegte sie bei der Fußballmeisterschaft der Frauen in der Sowjetunion 1989 den fünften Platz, im Feldhockey spielte sie für die ukrainische Auswahl. Sie als emanzipierte Frau zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Mehrmals war sie verheiratet; wenn die Männer ihr nicht guttaten, trennte sie sich von ihnen. Auch im Theater spielt sie mit Vorliebe starke Frauen, eine Revolutionärin zum Beispiel.
Aber auch Aljona blieb vorsichtshalber zwei Tage zu Hause, nachdem am 30. Oktober ein aggressiver Mob im russischen Dagestan einen Flughafen gestürmt hatte, um nach jüdischen Passagieren zu suchen. Aljona befürchtete zwar nicht, dass etwas Ähnliches in Poltawa passieren könnte, aber man weiß ja nie, Verrückte gibt es überall. In Poltawa studieren immer noch viele junge Leute aus muslimischen Ländern wie Marokko oder dem Irak. Zahnmedizin und Elektrotechnik sind besonders beliebt. "Woher kann ich wissen, was ihnen im Kopf herumschwirrt?", sagt Aljona.
Ihre Freundin Rita Blam hat 14 Jahre in Israel gelebt, in die Ukraine ist sie aus familiären Gründen zurückgegangen. Beide Länder bezeichnet sie als ihre Heimat. In Tel Aviv half sie einer zwangsverheirateten arabischen Frau, Ehebruch zu begehen, indem sie ihre Alibis bestätigte. Wie früher in Israel, bedient sie in ihrem Geschäft auch arabische Kunden. Kürzlich telefonierte sie mit einem Freund in Israel, als ein muslimisches Paar in ihren Laden kam. Die Kunden waren zwar erstaunt, Jiddisch zu hören, sagten aber nichts. Rita vermutet, dass alle Muslime in der Ukraine gewarnt wurden, hier Ärger zu machen und Juden zu bedrohen.
Pampers für die Schlägertruppe
Auch Rita liebt das Theaterspielen, sie ist Regisseurin am Jüdischen Theater. Während der Euro-Revolution auf dem Maidan in Kiew arbeitete sie zehn Wochen lang als Freiwillige. Meist schmierte sie Butterbrote für Demonstranten und Obdachlose. Sie schlief im Hotel "Ukraine" im Foyer auf dem Boden, bis ein Abgeordneter aus Poltawa ihr und ihren Kolleginnen sein Hotel-Appartement zur Verfügung stellte. Nach Kiew war sie zusammen mit Nationalisten der rechtsradikalen Swoboda-Partei gefahren, weil in deren Bus noch ein Platz frei war. Auf dem Maidan wurde die ukrainische Nation geboren, sagt sie. Auch dort habe es keine antisemitischen Vorfälle gegeben. Dennoch verkündete Putin mehrfach, auf dem Maidan hätten Pogrome stattgefunden und die "Hauptausführenden des Umsturzes" in Kiew seien "Nationalisten, Neonazis, Russophobe und Antisemiten" gewesen. In Deutschland wiederholte der damalige Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke, Gregor Gysi, diese Behauptungen. In einer Rede vor dem Bundestag sagte er am 13. März 2014, in der Ukraine seien nach der Euro-Revolution "Faschisten" an der Macht und es gebe "Übergriffe auf Jüdinnen und Juden". Doch das waren nur russische Propaganda-Narrative.
Vergnügt erzählt Rita, dass sie und ihre Mitstreiterinnen nicht nur den Demonstranten auf dem Maidan geholfen hätten, sondern auch den Schlägern der berüchtigten, später aufgelösten Berkut-Polizei. Eine der Frauen aus der Küche hatte einen Verwandten unter ihnen entdeckt. Die harten Männer mussten da zwölf Stunden im Schnee stehen, frieren und Windeln tragen. "Pampers", wie Rita lachend erzählt, denn für Toilettengänge war ja keine Zeit. Die Frauen brachten ihnen warme Kleidung und baten sie: "Aber erschießt uns nicht."
In ihrer Handtasche trägt Rita immer die Flagge der Ukraine bei sich, mit der sie auf dem Maidan demonstriert hat. Das ist ihr Maskottchen. Auch als die Russen auf Poltawa vorzurücken drohten, ging sie immer mit der Flagge aus dem Haus. Ihre Tochter warnte sie, man könne sie dafür erschießen. "Na und, soll man mich erschießen", sagte sie, "aber ich verrate die Ukraine nicht!"
Warum es in der Ukraine faktisch keinen Antisemitismus gibt, erklärt sie damit, dass sich Mentalität, Psyche und Seele der Ukrainer mit der Unabhängigkeit des Landes stark verändert haben. Die Ukrainer seien zivilisierter geworden. Anders als früher in der Sowjetunion wird die "Nationalität", also die Identifizierung als "Russe", "Ukrainer" oder "Jude", in ukrainischen Personaldokumenten nicht vermerkt. Diskriminierungen und Ressentiments werden so von vorneherein vermieden.
"Ukrainer sind wie Bienen"
Es sind wirklich verrückte Zeiten. In westlichen Ländern herrscht Frieden, und doch müssen jüdische Menschen um ihr Leben fürchten. In der Ukraine herrscht Krieg, und die Menschen respektieren und achten einander, gleich welchen Glaubens oder welcher Herkunft. Im Westen kann sogar die Polizei anti-israelische Ausschreitungen und Hassgesänge nicht immer verhindern. Das wirkt aus ukrainischer Sicht einfach nur barbarisch.
"Wir sind alle Ukrainer" ist ein geflügeltes Wort, mit dem kulturelle und sprachliche Differenzen überbrückt werden. Alle sind betroffen vom Krieg und bedroht von der Schreckensherrschaft des Bösen. Ukrainer sind wie Bienen, sagt Aljona. "Bienen sind fleißig, lieb, gutherzig. Aber wenn man sie ärgert oder bedroht, werden sie wild und gefährlich für Angreifer."
Heute wirkt es peinlicher denn je, dass die ukrainische Bevölkerung von Sofa-Experten aus dem Ausland oft als gespaltete Nation bezeichnet wurde. Der Anteil der Ukrainer, die eine staatliche Einheit mit Russland wünschten, war immer äußerst gering, auch auf der Krim und im Donbas. Auf der Krim bekam 2012 in den letzten freien Wahlen der von Russland später als Gouverneur eingesetzte Vorsitzende der pro-russischen Partei, Sergej Aksjonow, nur neun Prozent der Stimmen, seine Partei nur vier. Nirgends in der Ukraine wurden die Okkupanten mit Blumen empfangen.
Rita wünscht sich für die Zukunft vor allem, dass die Ukraine Mitglied der NATO und auch der EU wird. Die NATO sei aber wichtiger. In ökonomischer Hinsicht sieht sie das größte Problem darin, dass viele Menschen das Land verlassen haben und bei Weitem nicht alle zurückkehren werden. Die Regierung sollte schon jetzt darüber nachdenken, wie möglichst viele von ihnen zur Rückkehr animiert werden könnten. Auch dafür sei Israel ein Vorbild, denn dort könne man sehen, wie wichtig die Förderung der Kultur und Kunst für das Gedeihen der Gesellschaft sei, die Subventionierung der Theater, der Musik und des Kinos. Sollte dies geschehen, so werde die Ukraine eine großartige Zukunft haben - auch wenn es derzeit schwerfällt, sich diese vorzustellen.
Christoph Brumme lebt seit 2016 in der ukrainischen Stadt Poltawa. Er fuhr fast 30.000 Kilometer mit dem Fahrrad durch die Ukraine und ist Autor der Bücher "111 Gründe, die Ukraine zu lieben" und "Im Schatten des Krieges".
Quelle: ntv.de