Drohendes Fiasko Das Impfpflicht-Chaos ist verheerend
12.02.2022, 14:37 Uhr
Wollte den Vollzug der einrichtungsbezogenen Impfpflicht "de facto" aussetzen: Bayerns Regierungschef Markus Söder
(Foto: picture alliance / SvenSimon)
Mit seiner Absage an die eingeschränkte Impfpflicht untergräbt Markus Söder die Regeln des demokratischen Rechtsstaats. Leidtragende ist die Politik insgesamt, die weiter an Vertrauen verliert. In der Sache aber hat er recht. Die Vorgabe ist eine Kopfgeburt.
Ende Januar bewies der Bautzener Vize-Landrat Udo Witschas, dass das Querdenkertum auch in der CDU - zumindest der sächsischen - anschlussfähig ist. Er kündigte an, die Behörden würden die von Bundestag und -rat beschlossene Impfpflicht für Pflegekräfte in Kliniken und Altenheimen nicht wie beschlossen ab Mitte März umsetzen und "keine Berufsverbote" verhängen. Abgesehen davon, dass niemandem die Ausübung des Jobs untersagt werden soll, der sich nicht spritzen lässt, war das ein Affront gegen den demokratischen Rechtsstaat und seine gewählten Entscheidungsträger.
Zum Glück - und wie immer man zur Impfpflicht steht - ist der CDU-Kommunalpolitiker umgehend zurückgepfiffen worden. Hätte sich ein Landkreis tatsächlich gegen Bundesgesetz gestellt, wäre es ein Hauch von Anarchie gewesen, der den Trend forciert hätte, staatlichen Institutionen die Legitimation für ihr Handeln abzusprechen. Die Nichtanwendung von übergeordnetem Bundesrecht auf kommunaler Ebene hätte ungeahnte Folgen. Schließlich könnte es Schule machen und zu Versuchen führen, unter fadenscheinigen Begründungen Rechtsvorgaben aufzuheben, wie es beliebt und - siehe Bautzen - im Wahlkampf hilft.
Witschas, der im Juni wieder für die CDU kandidieren will, erklärte, mit der Aushebelung der Impfpflicht die Versorgung in der Pflege sicherstellen zu wollen. Das ist mit Blick auf angedrohte und vollzogene Kündigungen im Gesundheitssystem sehr wohl ein diskutables Argument, das die Politik aber vor Wochen mehrheitlich verworfen hat. Auch CSU-Chef Markus Söder ließ es kalt. Der Vize-Landrat hatte einen weiteren Punkt. Nach der Aufregung über sein leeres Versprechen erklärte der CDU-Mann, er habe "beruhigend auf die Beschäftigten und sonstigen Teilnehmer" einwirken wollen, die verunsichert seien, wie das alles ablaufen solle.
Der Pfleger muss geimpft sein, seine Patientin nicht
Tatsächlich herrscht In der Pflegeszene Unsicherheit - auch bei Arbeitgebern. Die von Bund und Ländern gewünschte "einheitliche und pragmatische Vorgehensweise" ist definitiv nicht in Sicht. Jeder Fall einer Weigerung muss individuell geprüft werden. Unklar ist, welche Einrichtungen einbezogen, wie genau die Maßnahme umgesetzt, welche Strafen verhängt werden sollen und wer das alles durchexerzieren soll. Es schaut schwer nach Kopfgeburt aus, wie sie typisch ist für die Zeiten der Pandemie. Leider gilt mal wieder: Gut gemeint, aber schlecht gemacht.
Der erhoffte Erfolg steht ohnehin in den Sternen. Die Sinnhaftigkeit, dass der Staat hier einschreitet, ist zweifelhaft, zumal rund 90 Prozent der Pflegekräfte in Kliniken geimpft und Altenheime keine hermetisch abgeriegelten Zonen sind. Wie wirkungsvoll ist also die Maßnahme, wenn sämtliche Beschäftigte geimpft sind, nicht aber Besucher, Lieferanten, Handwerker, die nur bei Bedarf in Seniorenheime kommen? Und ist es fair, dass sich Krankenschwestern und Pfleger spritzen lassen müssen, nicht aber Patienten oder betreute Senioren?
Hätte Witschas vorgehabt, dazu eine Debatte anzuschieben, ohne das Gesetz infrage zu stellen und vom angeblichen "Berufsverbot" zu reden, wären seine Worte nachvollziehbar gewesen. Versucht hat es inzwischen der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, was nicht minder gefährlich und ein Armutszeugnis für den Zustand der deutschen Politik ist. Denn das, was man dem sächsischen Vize-Landrat vorwerfen muss, trifft auch auf den CSU-Vorsitzenden zu.
Nur keinem wehtun, auch nicht mit Spritze
Traurig, dass Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP Söder daran erinnern musste, wie ein Rechtsstaat funktioniert: "Wenn sich die Regierenden selbst aussuchen, an welche Gesetze sie sich halten und an welche nicht, ist die Tyrannei nicht mehr fern." Deutschland ist keine Diktatur und Gesetzlosigkeit zum Glück nicht in Sicht. Aber das Chaos, das die Bundesregierung - erst die große Koalition, nun die Ampel - im Zusammenspiel mit den Ländern immer wieder verursacht und befeuert, lässt Politik- und Staatsverachtung wachsen.
Verschärft wird die Misere durch das Wegducken von Kanzler Olaf Scholz und seinem Gesundheitsminister Karl Lauterbach, die die abgespeckte und generelle Impfpflicht wollen, jedoch nicht vorangehen. Der Regierungschef hat Führung versprochen. Dabei benimmt er sich, als wäre er nach wie vor im Wahlkampf: Nur keinem wehtun, auch nicht mit einer Spritze. Lauterbach hat immer noch nicht kapiert - man denke nur an seine neueste Prognose von 500 Toten am Tag -, dass seine Einschätzungen als ständige Angst- und Panikmache wahrgenommen werden.
Doch je öfter seine Vorhersagen nicht eintreffen, desto mehr verlieren sie an Wirkung und erzeugen genau das Gegenteil von dem, was er sich erhofft. Da hilft auch nicht mehr der ewige Verweis auf das "Präventionsparadox", das besagt, dass Worst-Case-Szenarien vor allem deshalb nicht eintreten, weil im Stundentakt gemahnt und gewarnt worden ist und die Katastrophe deshalb abgewendet wird. Obwohl immer noch ein beachtlicher Teil der deutschen Bevölkerung strenge Schutzmaßnahmen befürwortet, wird allmählich klar, dass in Dänemark, Schweden und anderswo nicht nur Taugenichtse und Hasardeure am Werkeln sind, die das Leben ihrer Mitmenschen leichtsinnig aufs Spiel setzen. Die Sehnsucht nach Normalität steigt exponentiell.
Die Impfpflicht kommt. Nein? Vielleicht.
Beim einrichtungsbezogenen Piks zeichnen sich weiter Streit und Durcheinander ab, der Teil-Impfpflicht droht ein Fiasko, auch weil die Union kräftig daran rüttelt. Dass der Bund gegen Bayern und CDU-geführte Länder klagt, um das Gesetz durchzusetzen - es wäre ein Novum in der Geschichte der Berliner Republik -, wird sicher nicht passieren, zumal die Kollateralschäden enorm wären. Schon jetzt zeigt der Konflikt, jedenfalls gefühlt, wie wenig Verlass auf das Wort von Politikern ist. Die allgemeine Impfpflicht kommt nicht - doch, sie kommt. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht kommt - nein, sie kommt nicht. Oder vielleicht. Keiner weiß es mehr.
Dieses Tohuwabohu führt dazu, dass auch die Impfpflicht für alle derzeit chancenlos ist. Keiner will die Verantwortung übernehmen. Bezeichnend dafür ist, dass die gesetzlichen Krankenkassen - völlig zurecht - die Kontrolle ablehnen, wer sich den Piks abgeholt hat und wer nicht, wie es Abgeordnete der Ampel vorschlagen. Das ist wahrlich Sache des Staates. Omikron ist sehr ansteckend, aber bringt die Intensivstationen nicht zum Bersten. Die breite Mehrheit der Bevölkerung trägt bereitwillig Maske, hält Abstand und lässt sich - wie der Autor dieser Zeilen - freiwillig impfen. Covid 19 ist eine fiese Krankheit. Wer keine Lust auf schweres Leiden (oder gar Sterben) hat, sollte sich die Spritze geben lassen. Wer sich der Gefahr aussetzen will, soll darauf verzichten. Infizieren wird sich ohnehin jeder.
Diskutabel ist eine Impfpflicht ab einem bestimmten Alter, etwa 60 Jahre. Die kann hilfreich sein. Aber dazu braucht es den Mut eines Kanzlers, der sich nicht länger wegduckt, und eines Gesundheitsministers, der sein Ressort führt und Gesetze ausarbeitet, anstatt in Talkshows zu sitzen und der "Bunte" Interviews zu geben.
Quelle: ntv.de