Wer schoss russische Il-76 ab? Was Moskau sagt, hat nichts zu sagen


Bislang ist nur klar, dass eine Maschine abgeschossen wurde.
(Foto: picture alliance/dpa/UGC/AP)
Über den Absturz der russischen Transportmaschine Il-76 ist derzeit nicht viel bekannt. Sicher ist, dass es den Abschuss gab. Sicher ist auch, dass russischen Behauptungen nicht zu trauen ist.
Es wird vermutlich noch eine ganze Weile dauern, bis verlässlich geklärt ist, was mit der russischen Transportmaschine Iljuschin Il-76 passiert ist, die am Mittwoch in der Nähe der russischen Stadt Belgorod abgestürzt ist. Sicher ist aktuell nur eines: Was Kreml oder russisches Außenministerium verbreiten, ist in der Regel falsch - vor allem dann, wenn es um die Ukraine geht.
Die angeblichen Kriegsziele der Russen in der Ukraine sind nur der Höhepunkt einer langen Liste von Lügen: Die Regierung in Kiew besteht weder aus Drogensüchtigen noch aus Satanisten, auch herrscht in der Ukraine kein Faschismus, was immer sich die russische Regierung unter "Faschismus" vorstellt. Die "grünen Männchen" auf der Krim 2014 waren keine ukrainischen Selbstverteidigungskräfte, in den Jahren danach hat es keinen Völkermord im Donbass gegeben und Flug MH17 wurde nicht von der ukrainischen Armee abgeschossen. Alles russische Desinformation.
Man sollte also vorsichtig sein, auch nur ein Wort zu glauben, das aus dem Kreml kommt. Die Faktenlage ist bisher übersichtlich: "Das Flugzeug ist abgeschossen worden. Und es war ein Gefangenenaustausch geplant, der nicht stattgefunden hat", sagte die Sicherheitsexpertin Claudia Major im ZDF. Das seien die einzigen verlässlichen Informationen, alles andere sei bislang Spekulation. Das gilt auch für die Information, dass an Bord der Iljuschin ukrainische Kriegsgefangene waren.
Denkbar sind aktuell unterschiedliche Szenarien:
Erstens: Die Ukraine hat das Flugzeug abgeschossen. Die Transportmaschine war ein Flugzeug des russischen Militärs und damit ein legitimes Ziel. Nach ukrainischer Darstellung hatte Russland - anders als sonst üblich - die Ukraine nicht darüber informiert, wie die Kriegsgefangenen zum Austausch gebracht werden sollten. Es hätte demnach keinen Grund für die Ukraine gegeben, anzunehmen, dass Ukrainer an Bord waren.
Zweitens: In der Iljuschin waren tatsächlich Kriegsgefangene und Russland hat den Abschuss provoziert, um die Ukraine international zu diskreditieren. Von der Ukraine wird dieses Szenario als wahrscheinlich dargestellt, und es wäre nicht das erste Mal, dass Russland der Ukraine die Tötung Dutzender Kriegsgefangener in die Schuhe schieben will - so war es auch im Juli 2022, als bis zu 62 ukrainische Kriegsgefangene bei einer Explosion in einem Gefängnis in Oleniwka ums Leben kamen. Klar ist, dass die Diskreditierungsversuche bereits angefangen haben. Der Vorsitzende der Duma will dem US-Kongress und dem Deutschen Bundestag schreiben, damit die Abgeordneten "endlich klar sehen können, wen sie finanzieren und wem sie helfen", denn nach russischer Darstellung wurde die Iljuschin "mit amerikanischen und deutschen Raketen" abgeschossen.
Und Version drei: Russland hat das Flugzeug selbst abgeschossen. Der Militärexperte Nico Lange schreibt auf X, alles sehe nach einem irrtümlichen Abschuss durch eine russische S-300 Flugabwehrrakete aus. Im "Tagesspiegel" erläuterte Lange, auf Videos sei zu sehen, dass das Flugzeug während des Absturzes auseinanderbricht. "Das deutet auf einen Abschuss durch Flugabwehr hin." Zudem seien in dem Gebiet bei Belgorod in den letzten Wochen immer wieder russische S-300-Systeme aktiv gewesen. "Aktivitäten von Patriot, Iris-T oder anderen modernen westlichen Systemen im Besitz der Ukraine wurden dort bisher nicht beobachtet."
Beide Seiten lügen? Ganz so ist es nicht
Lange räumt ausdrücklich ein, dass er mit seiner Theorie falsch liegen könne. Auch in diesem Kommentar geht es nicht darum, eine Version als richtig darzustellen. Aber die alte Floskel, im Krieg sterbe die Wahrheit zuerst, ist hier unangebracht. Meist wird sie vorgetragen, um auszudrücken, dass "beide Seiten" auch im Informationsraum kämpfen und deshalb "beiden Seiten" nicht zu trauen sei. Grundsätzlich ist das richtig. Aber das sollte nicht dazu führen, die Vertrauensunwürdigkeit beider Seiten gleichzusetzen.
Putin persönlich hat eine Vorgeschichte von Desinformation und stumpfen Lügen. Als die grünen Männchen auf der Krim standen, sagte er, russische Uniformen ohne Hoheitsabzeichen könne man in jedem Dorfladen kaufen, der Kreml habe damit nichts zu tun. Einen Monat später erklärte er, natürlich hätten russische Soldaten im Rücken der angeblichen Selbstverteidigungskräfte gestanden. Es war ihm egal, als Lügner dazustehen.
Weder die Ukraine noch Präsident Wolodymyr Selenskyj haben eine solche Vorgeschichte. Das bedeutet nicht, dass jede Information aus Kiew stimmt; so gibt es etwa zur Verantwortung für die Sprengung der Northstream-Pipelines widersprüchliche Informationen zur Urheberschaft. Aber Selenskyj und die Ukraine haben einen Ruf zu verlieren. Für Putin und sein Regime gilt das nicht, ihr Ruf liegt längst in Trümmern. Über den Abschuss von MH17 hat Russland gleich mehrere, sich widersprechende Versionen verbreitet. An alternativen Fakten herrscht in Putins Russland kein Mangel.
Quelle: ntv.de