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"Skisprung-Sputnik" aus Thüringen Helmut Recknagel wird 75

Held aus Thüringen: Helmut Recknagel wird nach seinem Sieg bei den VIII. Olympischen Winterspielen in Squaw Valley von zwei Mannschaftsbetreuern auf Schultern getragen.

Held aus Thüringen: Helmut Recknagel wird nach seinem Sieg bei den VIII. Olympischen Winterspielen in Squaw Valley von zwei Mannschaftsbetreuern auf Schultern getragen.

(Foto: dpa)

Aus Angst davor, dass seine enge Skisprung-Hose einmal platzen könnte, kauft sich Helmut Recknagel vor den Olympischen Spielen 1960 ein bequemeres Modell - und wird darin zum ersten Skisprung-Popstar. An seinem 75. Geburtstag wünscht sich Recknagel: "Ich möchte noch einmal 19 sein. Und dann 250 Meter weit fliegen."

Seine enge DDR-Sprunghose hätte Helmut Recknagel beinahe den Olympiasieg gekostet. "Ich habe jedes Mal gefürchtet, dass sie platzt, wenn ich in die Hocke ging", erinnert sich der Thüringer an die Winterspiele 1960 in Squaw Valley, wo aus dem schüchternen Helmut der erste Popstar des Skispringens wurde: "Also kaufte ich eine von Willy Bogner. Die war elastisch und wärmte, damit konnte man gewinnen." Kurz darauf war Recknagel, der heute seinen 75. Geburtstag feiert, der erste deutsche Skisprung-Olympiasieger.

Es sind Anekdoten wie diese, die Recknagel wohl auch auf seiner Geburtstagsfeier zum Besten geben wird. "Ich lade Ende des Monats zu einem kleinen Festessen. Die ganz große Feier hebe ich mir für den 80. Geburtstag auf", sagte Recknagel. Wo er den Ehrentag verbringen wird, weiß nur Ehefrau Eva-Maria: "Sie will mich überraschen. Wahrscheinlich werde ich in irgendeinem Wellnessbereich auf einer Pritsche liegen." Vielleicht wird er dabei auch ein wenig von früher träumen, von unzähligen Liebesbriefen, Hechtsprüngen und falschen Nationalhymnen.

"Ich war der Komet, die Rakete"

Eigentlich wollte Recknagel Profifußballer werden. Er wurde ein Skisprung-Superstar.

Eigentlich wollte Recknagel Profifußballer werden. Er wurde ein Skisprung-Superstar.

(Foto: dpa)

Dabei wäre das Multi-Talent beinahe Fußballer geworden. Bis er 17 war, träumte der Werkzeugmacher aus dem kleinen Steinbach-Hallenberg von einer Karriere an der Seite des großen Fritz Walter. "Wenn mein Vater mich gelassen hätte, hätte ich es in Kaiserslautern versucht", sagt Recknagel. Dann entdeckte ihn der legendäre DDR-Trainer Hans Renner, und es gab nur noch Skispringen. Der Durchbruch gelang im März 1957. Als erster Nicht-Skandinavier gewann Recknagel die Holmenkollen-Spiele in Oslo. Da war er gerade 19. Die norwegischen Zeitungen waren fassungslos, ein Deutscher hatte ihre Dominanz gebrochen. "Es schien, als sei im Vatikan eine Frau auf den Stuhl Petri gestiegen", schrieb Recknagel in seiner Autobiografie ("Eine Frage der Haltung"). Heute hängen seine Skier im Holmenkollen-Museum direkt neben denen der norwegischen Sprunglegende Björn Wirkola.

Eine Woche später gewann er auch im jugoslawischen Skisprung-Mekka Planica - mit Schanzenrekord. "Ich war der Komet, die Rakete. Ein Blatt nannte mich gar Skisprung-Sputnik", erinnert er sich. Es war die Zeit des kalten Krieges, und Recknagel steckte mittendrin. Als 1958 nach seinem Sieg in Oberstdorf versehentlich die westdeutsche Nationalhymne gespielt wurde, kam es zu einem Eklat. "Ich sprang vom Podest und gab die Trophäe zurück", so Recknagel. Erst als sich der Oberbürgermeister entschuldigte, glätteten sich die Wogen.

Triumphe im Hechtstil

Im Hechtsprung ließ Helmut Recknagel bei Olympia 1960 die Kritiker verstummen, die ihn zuvor nicht als gesamtdeutschen Fahnenträger hatten haben wollen.

Im Hechtsprung ließ Helmut Recknagel bei Olympia 1960 die Kritiker verstummen, die ihn zuvor nicht als gesamtdeutschen Fahnenträger hatten haben wollen.

(Foto: dpa)

Seinen größten Sieg hatte der dreimalige Gewinner der Vierschanzentournee (1958, 1959, 1961) da schon hinter sich. Im "Hechtstil" mit ausgestreckten Armen sprang er 1960 zu Olympia-Gold. Und, fast noch bedeutender: Der Mann aus Thüringen war Fahnenträger der gesamtdeutschen Mannschaft. "Einige Blätter schrien Protest. Man könne auf keinen Fall dem 22-jährigen Kommunisten aus der Zone ins Stadion folgen. Sie verstummten erst, als ich Gold holte", so Recknagel. Als er bei der Siegerehrung zwei Medaillen um den Hals gehängt bekam, realisierte er, dass er "nebenbei" auch Weltmeister geworden war.

Später bekam er den Vaterländischen Verdienstorden in Gold und betonte doch immer wieder: "Wir waren Sportler und keine kalten Krieger." Als erster Deutscher erhielt er die Holmenkollen-Medaille, wurde DDR-Sportler des Jahres 1962 und 1964. Aber der Zenit war überschritten. Am 21. März 1964 sprang er in Oberwiesenthal das letzte Mal, dann hängte er die Skier an den Nagel. Recknagel wagte einen kompletten Neustart. Er holte die Hochschulreife nach, studierte Veterinärmedizin, promovierte mit einer Untersuchung an Albino-Ratten. Nach der Wende saß er plötzlich auf der Straße und hielt sich mit ABM-Stellen über Wasser. Dann gründete er ein Krankentransport-Unternehmen, ehe er 1996 ein Sanitärhaus in Berlin-Friedrichshain eröffnete. Inzwischen hat er in ganz Berlin acht Filialen, seit drei Jahren ist er Rentner - und weiter umtriebig und topfit. "In meiner Jugend habe ich geschätzte 3000 Liter Ziegenmilch getrunken. Das hält gesund", sagt Recknagel, der noch immer in Berlin wohnt.

Nachträglich ändern würde die Skisprung-Ikone nur eines: sein Geburtsdatum. "Ich möchte noch einmal 19 sein", sagt Recknagel: "Und dann 250 Meter weit fliegen."

Quelle: ntv.de, Erik Roos, sid

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