Der große Frust vor dem Derby Herthas Schicksal: "Nächster Samstag, nächste Scheiße"
28.01.2023, 07:55 Uhr
Die Hertha-Spieler schleichen nach dem Debakel gegen Wolfsburg durchs Olympiastadion.
(Foto: picture alliance / Andreas Gora)
Es ist nicht leicht, Anhänger von Hertha BSC zu sein. Seit Jahren schon. In der Vorsaison entkommt der Klub aus dem Berliner Westend ganz knapp dem Abstieg, stellt sich dann neu auf und ist glücklicher jetzt. Erfolgreicher nicht. Unser Gast-Autor ist vor dem Derby verzweifelt.
Ich bin Erfolgsfan. Jeder Fußballfan ist das. Im Fußball geht es jede Sekunde um den Erfolg: den Sieg. Das Tor. Das abgefeierte Tackling an der Außenlinie. Die VAR-Entscheidung für dein Team. Den Jubel! Erfolg ist die Essenz des Fußballspiels. Wegen ihm gehst du hin. Aus der Oper trittst du beglückt, weil sie dir ästhetischen Rausch beschert. Aus dem Stadion kommst du selig, wenn dein Team einen beschissenen Kick gegen einen Werkstadtverein wie Wolfsburg mit abgefälschtem Torschuss 1:0 gewonnen hat.
Zumindest stelle ich mir das so vor. Wie schön das wäre. Dein Team haut sich in jeden Zweikampf rein, es rennt, rackert, schlittert, rummst in den Gegner. Und dann, obendrauf, wenn alles läuft - okay. Da kann man dann auch schön spielen. Habe ich jedenfalls gehört. Manchmal sehe ich auch Schnipsel von anderen Kicks, Premier League oder so. Die kann ich nicht lange ertragen. Wie gekonnt das alles aussieht! Ich dagegen bin ja Herthaner. Liebst du die Stadt, dann liebst du den Klub. In Mitte geboren, 1892, aufgewachsen im Wedding. Das volle Aroma! Schulle, Mampe, Schnippelwurst. Hertha ist Berlin, Berlin ist Hertha. Das haben selbst die Dödel in der DDR damals kapiert. Nachdem niemand ihren Stasiklub BFC so richtig liebhaben wollte, gründeten sie einfach noch einen Klub, als Hertha-Kopie, um sich mit ihrer Bevölkerung anzufreunden, wie Hans Modrow mal in einem Interview erklärt hat. Und sie gaben ihm den Namen eines Traditionsklubs, der in den Westen rübergemacht hatte: Union.
Gegen diesen Abklatsch müssen wir am Samstag spielen. Nachdem wir uns erst am Dienstag blamiert haben wie nur was. Ich nutze die wenigen Stunden, die mir zwischen den Tiefschlägen bleiben, um diesen Text zu schreiben.
"Für die Landesliga ein super Konzept"

Welche Rolle nimmt Kevin-Prince Boateng bei Hertha ein? Klaus Ungerer weiß es nicht.
(Foto: picture alliance/dpa)
Natürlich wird die Hertha-Kopie für Hipsterkinder uns auch am Samstag vernichten. Wir haben es nicht anders verdient. Denn wenn es etwas gibt, auf das man sich bei Hertha verlassen kann, dann dies: Am Ende zucken alle die Schultern und ordern noch einen Pfeffi. Dit is Balin. Hertha geht in Bochum unter. Hinterher posten alle, wie lustig die Zugfahrt war. Hertha wird von Wolfsburg massakriert: Man überbietet sich mit fatalistischen Witzen. Die Spieler in den Interviews wissen auch nicht so genau und sehen der Aufarbeitung gefasst entgegen. Niemand tritt je eine Tonne um, niemand würgt den Reporter vor Wut.
Weil sie in Berlin alle keine Erfolgsfans sind. Teils ist das die Berliner Lebensart, mir voll sympathisch: Am Ende gibt es doch immer wichtigere Dinge. Am Ende zählt doch, dass wir zusammen in der Kneipe sitzen und quatschen. Teils ist es Resignation. Seit bald hundert Jahren hat Hertha nichts mehr gewonnen. Als Herthaner hast du vergessen, wie Erfolg sich anfühlt. Du hast gelernt, die dritte Halbzeit zu lieben. Wenn das Spiel endlich vorbei ist und der Spaß beginnt.
Und ich hasse das. Ich bin nach den Spielen tief frustriert. Den Frust strampel ich auf dem Heimweg raus. Die Kumpelinnen und Kumpels stehen dann noch irgendwo an der Bude, um das Spiel wegzutrinken. Ich strampel, strampel und strampel, kopfschüttelnd, schnaubend. Ich bin Erfolgsfan. Ich will das alles nicht mehr. Ich will mich nicht mit Fredi Bobic identifizieren müssen! Wenn er Erfolg hätte, okay. So aber... Dardai, die Legende? Weggerempelt. Arne Friedrich? Futschikato. Die tolle Nachwuchsakademie? Och, da ist der Leiter nach vielen erfolgreichen Jahren mal lieber abgewandert. Berliner Blut? Man hat Kevin-Prince Boateng aus der Vorrente geholt und Filme mit ihm gedreht, in denen er Döner verkauft. Um den Dönerverkäufer herum sollte dann ein neues Team wachsen, irgendwie. Für Landesliga ein super Konzept! Im Hier und Jetzt torkeln die Spieler orientierungslos über den Rasen und an der Ersatzbank vorbei, wo Prince seine Tipps reinbrüllt.
Der Präsident und die neue Hertha-Welt

CDU-Mann Frank Steffel (l.) sitzt mit Kay Bernstein kurz vor der Wahl im vergangenen Sommer an einem Biertisch.
(Foto: picture alliance/dpa)
Meine Herthafreunde verstehe ich manchmal nicht, vielleicht bin ich noch nicht lange genug in Berlin. Dieses Abfinden. Dieses Laissez-faire, Laissez-untergehen. Neulich hat Hertha sich nach Jahren der Krise einen neuen Präsidenten gewählt, zur Wahl standen - in Berlin, in 2022 - Frank Steffel und der plötzlich aufgeploppte Kay Bernstein, der immer eine Herthajacke trägt und auf seiner Kampagnenseite die Lage analysierte: "Unsere geliebte Alte Dame ruft, nein: sie schreit nach Hilfe!" und Anweisungen gab wie "Der Gruß des Herthaners sei Ha Ho He". (Wie sich Herthanerinnen zu grüßen haben, verblieb dabei ungeklärt, Frauen kamen auf der Seite nicht vor.) Bernstein wurde dann von 1670 Leuten zum Präsidenten gewählt, bei einem Verein von ca. 40.000 Mitgliedern. Du darfst nämlich nur mitwählen, wenn du einen kompletten Tag der Hertha opferst, mit stundenlangen An- und Aussprachen, mit Trauer-Streichquartett für die Verstorbenen. Ob man dann nächstes Mal online wählen kann, oder per Briefwahl? Sicher zu modern gedacht für eine schreiende Alte Dame.
Seit Kay Bernstein überall seine schöne Jacke vorführt, sind viele meiner Herthanerkumpels wieder zufriedener. Ständig berichtet er von Gänsehaut und Emotionen, er betont, dass ein Verein wie eine Familie sei, und ordnet an, dass alle sich jetzt duzen müssen bei Hertha; manchmal weint er auf der Tribüne.
Derweil geht die Mannschaft unter. Und während man diesen Leuten da in unserem blauweißen Dress beim Verstolpern zuschaut, überlegt man: Welcher Spieler hat bei mir zuletzt Emotionen ausgelöst... Peter Niemeyer (Abgang 2015)? Vedad Ibisevic (Abgang 2020)? Die Letzten waren Rune Jarstein (rausgeekelt) und Jordan Torunarigha (nach Belgien verjagt). So sitzt man da und starrt auf den Bildschirm. Mein Kumpel im Oberring hatte ein Plätzchen für mich frei gegen Wolfsburg. Ich habe verzichtet. Habe zu Hause mitverfolgt, wie Team Bobic sich bis auf die Knochen blamierte, derweil Teile der Ostkurve ihre tollen Emotionen auslebten, indem sie gleich mal dem möglichen neuen Investor ans Knie pissten.
Der Vorteil der "seelenlosen Projekte"
Klaus Ungerer hat schon viel gesehen. Der Autor schrieb für das Feuilleton der FAZ, war Textchef der Wochenzeitung "Freitag" und auch beim "Spiegel". Im Sommer 2021 gründete er gemeinsam mit Andreas Baum die Buchreihe edition.schelf. Weil Literatur aber nicht alles ist, hängt sein Herz auch am Fußball. Als Anhänger von Hertha BSC und dem VfB Lübeck ist er eigentlich das Gegenteil eines Erfolgsfans. Seine aktuelle Novelle heißt: "Wir sagen einfach alles, wovor wir Angst haben"
Das sind so die Momente, in denen man - sehr still, sehr heimlich - denkt: Sollten es doch nicht nur die intravenösen Abermillionen sein, die seelenlose Projekte wie Leipzig, Wolfsburg, Leverkusen uns voraus haben? Ist vielleicht ihr großer Vorteil, dass es ihnen nicht um Gemütlichkeit geht, nicht um Frank Zander und Pommesbude nachts um halb Vier? Sondern dass sie eben straff, öde, zielgerichtet - kurz: dass sie Erfolgsfans sind?
Der letzte Erfolgsfreund bei Hertha war ja wohl CEO Carsten Schmidt: Er wollte alles im Klub auf den Prüfstand stellen, Zielvorgaben machen. Dann trat er aus privaten Gründen zurück. Kaum war er weg, war die Berliner Wurstigkeit wieder da. CEO? Einer von außen, der mal die Zügel anzieht? Oder wie wäre es mit ein paar Fußballexperten in der Führungsebene, außer nur Bobic? Wie wäre es, wenn der Mann in der Jacke mal ein paar sportliche Vorgaben machen würde, statt alles in Gefühligkeit zu ertränken? Wie wäre es mit einem Plan?
Och. Muss ja nicht sein. Haben wir ja die letzten 130 Jahre auch nicht gehabt. Dafür gibt es schöne Lieder darüber, dass Hertha auf ewig das Berliner Sorgenkind sein wird, und wie das Leben trotzdem weitergeht. Eine Freundin hat mich zum Derby gegen die Kopie eingeladen, voll nett. Aber ertrage ich das noch? Woche für Woche, Jahr für Jahr: Samstag Gegurke und Kopfkratzen, Vorfreude dann wieder ab Mittwoch. Nächster Samstag, nächste Scheiße. Alle paar Wochen reißen sich die Herren mal zusammen. Unterm Strich: Klassenerhalt, Urlaub. Die Fans feiern. Aber was?
Ich würde auch gern mal feiern. Erfolge. Erfolg, das muss keine Meisterschaft sein. Nicht mal ein Sieg muss das sein. Du willst nur sehen, da haben welche alles gegeben. Da kommen Spieler hoch aus der Akademie, und sie entwickeln sich. Jedes Jahr Zwölfter, allet jut. Ab und zu vielleicht mal Europapokal. Oder wenigstens, dass man nach dem Derby aus dem Stadion geht und weiß: Okay, zwar hat es für die Köpenicker nicht gereicht. Aber wir können aufrecht in der U-Bahn nach Hause sitzen, während die Hipster und die Nostalgiker aus dem alten Ostteil der Stadt um uns herum feixen. Das wäre ein Erfolg. Einfach nur, dass man den Schal durch die Stadt tragen mag. Und deswegen werde ich nicht hingehen am Samstag.
Quelle: ntv.de