Redelings über Frank Mill Der Florist, der nur den Pfosten traf
12.09.2017, 10:03 Uhr
Olympiastadion, 9. August 1986: Frank Mill schießt fast ein Tor.
Frank Mill wird auf ewig der Mann sein, der frei vor dem Tor den Ball leider nur an den Pfosten schoss. Dass sein Leben noch viele weitere erzählenswerte Geschichten vorzuweisen hat, zeigt die Biografie über einen, der sich selbst als Schlitzohr bezeichnet.
Helmut Rahn wollte am Ende nicht mehr über sein Siegtor zum 3:2 im WM-Finale von 1954 gegen Ungarn sprechen. Nur hier und da entlockten ihm Freunde und Bekannte beim Bier schmale Erinnerungen an diesen magischen Moment: "Ich zieh ab mit dem linken Fuß, und dat gibt son richtigen Aufsetzer. Wat dann passiert is, dat wisst ihr ja." Die Fußballer Frank Mill und Helmut Rahn verbindet eine Menge. Beide sind sie in Essen geboren, beide absolvierten sie eine vielbeachtete Karriere, beide gingen für Rot-Weiss auf Torejagd - und beide haben sie diesen einen magischen Augenblick, der sie im kollektiven Gedächtnis der deutschen Fans unsterblich werden ließ.
Und noch etwas verbindet die Essener Nationalspieler: Beide haben irgendwann beschlossen, über ihren besonderen Moment nicht mehr öffentlich zu sprechen. Mills Augenblick für die Ewigkeit ereignete sich am 9. August 1986. Damals bestritt er sein erstes Spiel für Borussia Dortmund. In München, im Olympiastadion, vollbrachte er das Wunder, nach einem Sololauf über 40, 50 Meter den Ball frei vor dem leeren Tor an den Pfosten zu setzen. Eine einmalige Kuriosität, die auch heute noch interessiert und zu Nachfragen anregt. Doch auch für das just erschienene Buch "Frank Mill. Das Schlitzohr des deutschen Fußballs" macht der ehemalige Bundesligaprofi keine Ausnahme. Aus seiner Sicht ist zu diesem Nicht-Tor alles gesagt.
Ben Redelings ist "Chronist des Fußballwahnsinns" (Manni Breuckmann) und leidenschaftlicher Anhänger des VfL Bochum. Der Autor, Filmemacher und Komödiant lebt in Bochum und pflegt sein Schatzkästchen mit Anekdoten. Seine kulturellen Abende "Scudetto" sind legendär. Für n-tv.de schreibt er stets dienstags die spannendsten und lustigsten Geschichten auf. Sein Motto ist sein größter Bucherfolg: "Ein Tor würde dem Spiel gut tun".
Deshalb wandte sich der Autor der Biografie, Frank Lehmkuhl, an den Torhüter des FC Bayern, an Jean-Marie Pfaff: "Ich vermute, er hat in der Situation mit mehreren Gedanken gespielt, wollte es besonders ästhetisch vollenden oder war nach den 40, 50 Metern, die er ja allein unterwegs gewesen war, auch ein bisschen müde. Sein Schuss am Ende dieser langen Strecke war scharf, vielleicht zu scharf. Das alles kann eben geschehen. Als Resultat - und das ist doch das Wichtigste - bleibt ein Stück deutsche Sportgeschichte. Großes Fußballentertainment, ein Moment für die Ewigkeit." Einen solchen Augenblick hat auch Jean-Marie Pfaff selbst erlebt: "Gleich in meinem ersten Spiel für die Bayern lenkte ich in Bremen einen Einwurf des Werder-Spielers Uwe Reinders mit meinen Fingerspitzen in unser Tor und erntete viel Häme. Es war eine ähnliche Situation, wie sie Frank Mill erlebte, ein Fehler, der in die Bundesliga-Geschichtsbücher einging."
"Ich bin noch zu jung zum Sterben"
Genau diese Momente sind es, die den Reiz von Sportlerbiografien ausmachen. Mill erinnert sich an zwei Spiele, die nicht nur die Anhänger von Borussia Mönchengladbach nie vergessen werden: die beiden Europapokalpartien 1985 gegen Real Madrid. Nachdem die Borussen die Spanier im Hinspiel mit 5:1 aus dem Düsseldorfer Rheinstadion geschossen hatten, schieden sie durch die 0:4-Niederlage im Rückspiel im Bernabéu-Stadion noch aus. Und das lag vor allem daran, dass die Gladbacher in Madrid von 100.000 heißblütigen Fans auf den Rängen und elf hungrigen Spielern auf dem Platz empfangen wurden. Lehmkuhl erzählt: "Schon auf dem Weg zum Stadion wurde der Bus der Borussen mit Tomaten und Eiern beworfen. Blanker Hass schlug Mill & Co. entgegen. Zurück in der Kabine, sah Frank, wie Kurt Pinkall, eigentlich ein Verächter von Schienbeinschonern, sich die Dinger festzurrte und die Stutzen drüberzog. "Ihr habt doch gesehen, was da draußen los ist, sagte Pinkall, ich bin noch zu jung zum Sterben."
Wer in den 1970er-Jahren geboren wurde, erinnert sich gut und vor allem gerne an das prominent besetzte, deutsche Fußballteam, das 1988 bei den Olympischen Spielen in Seoul die Bronzemedaille holte. Viele Jahre vor diesem speziellen Freudentag hatte Frank Mill schon auf diesen Platz auf dem Podest hingearbeitet. In seiner Abschlussarbeit als Florist (!) präsentierte der Sohn eines Schrottplatzbesitzers einen komplett in Rot und Weiß gehaltenen Siegerpodest, "erstellt aus geflochtenen, wunderbaren Blumen. Thema: Olympische Spiele."
Eine schöne Randnotiz: Gemeinsam feierten die Sportler damals miteinander "Tupperpartys für Modellathleten" im olympischen Dorf. Doch eines Nachts flog aus einem der oberen Stockwerke ein prall gefüllter Wassereimer. In die Stille hinein erklang anschließend noch ein Ruf: "Ruhe, ich muss trauern!" Es war die Stimme des Zehnkämpfers Jürgen Hingsen, der an diesem Tag beim 100-Meter-Lauf dreimal zu früh gestartet und deshalb disqualifiziert worden war. Geschichte und Geschichten lebendig erzählt. Kollektives Erinnern kann so viel Freude bereiten. Gut, dass auch Helmut Rahn wenigstens beim Bierchen noch viele Jahre herrliche Storys von früher erzählte.
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Quelle: ntv.de