Fußball-WM 2018

Russische Samthandschuhe zur WM Die Freiheit der anderen

Unangemeldet und unbehelligt: Fußballfans versammeln sich scharenweise - und niemand greift ein.

Unangemeldet und unbehelligt: Fußballfans versammeln sich scharenweise - und niemand greift ein.

(Foto: imago/ITAR-TASS)

WM-Fangruppen ziehen unbehelligt durch die Städte, Sprechchöre und Banner werden toleriert - alles Dinge, die sonst unter das extrem restriktive Versammlungsrecht fallen. Viele Russen fragen sich: Weshalb dürfen die jetzt, was ich nie darf?

Stell dir vor, du fährst zur Fußball-Weltmeisterschaft, und alles ist wie immer. Du rollst ein Banner aus, auf dem "Wir werden Weltmeister" steht. Du ziehst mit anderen Leuten, die dasselbe Team unterstützen wie du, singend durch die Straßen. Du postest deine Erlebnisse und Meinungen in sozialen Netzwerken und nichts geschieht. Polizisten begegnen dir freundlich und hilfsbereit. Niemand will in der Metro deinen Ausweis sehen.

Was sich für viele angereiste Fans während der WM wie Alltag anfühlt, ist für die Menschen, die dauerhaft in Russland leben, alles andere als das. Die Versammlungsfreiheit, ohnehin streng reglementiert, wurde für den Zeitraum der WM in den Gastgeberstädten noch einmal weiter eingeschränkt. Wer zu Themen wie Syrien oder der Annexion der Krim kritisch in sozialen Netzwerken postet, muss mit einem Gerichtsprozess rechnen. Polizisten setzen auf Präsenz und demonstrative Abschreckung, gepaart mit willkürlichen Aktionen wie Passkontrollen.

Überraschung über unangemeldete Versammlungen

Viele Russen sehen darum mit Verwunderung, was in ihrem Land derzeit alles möglich ist und staunen, wie die internationalen Gäste selbstverständlich Freiheiten in Anspruch nehmen, die ihre Gastgeber selber nicht haben. Die Isländer zum Beispiel. Ein Video bei Twitter zeigt, wie sie sich im Moskauer Sarjadie-Park treffen und ihr kollektives "Huh!" üben. Eine unangemeldete Versammlung, und niemand schreitet ein? "Das Gefühl, wenn isländische Bürger in Russland mehr Rechte haben als du selbst", kommentiert ein russischer Twitter-Nutzer trocken.

Schon am Tag vor dem Eröffnungsspiel machte ein Foto die Runde, auf dem eine Gruppe von Fans aus Uruguay in der Nähe des Roten Platzes zwei Transparente zur Unterstützung ihrer Mannschaft hochhält. "Man sollte erwähnen, dass genau an diesem Ort schon Oppositionelle verhaftet wurden, die als Experiment zum Thema Bürgerrechte weiße Papierstücke hochhielten", erinnert der in Moskau lebende Journalist Marc Bennetts. Das Thema, wer in ihrem Land warum wie viel Freiheit bekommt, bewegt derzeit viele Russen, in den sozialen Netzwerken begegnet es einem in diesen Tagen immer wieder.

Von den peruanischen Fans, die sich in Saransk unbehelligt versammeln und in der Stadt feiern konnten, ließ sich auch Alexej Nawalny inspirieren. Der russische Oppositionspolitiker, der immer wieder mit unterschiedlichen juristischen Schritten ausgebremst wird, wies auf ein Video der feiernden Fans hin und schrieb dazu: "Klasse. Und keine Nationalgarde. Keine idiotische Verwarnung für einen Monat." Nawalny war im Mai zu 30 Tagen Haft verurteilt worden, weil er zu Demonstrationen gegen Wladimir Putin aufgerufen und damit nach Einschätzung des Gerichts das russische Versammlungsrecht verletzt hatte.

Randalieren: ja - "Nawalny" rufen: lieber nicht!

Dass die Polizei bei unpolitischen Fan-Versammlungen auch dann ein Auge zudrückt, wenn sie unangemeldet sind, lässt sich für manche Russen vielleicht noch nachvollziehen. Doch was, wenn Fans so richtig über die Stränge schlagen? Und wenn es eben nicht Gäste aus Island und Uruguay, aus Peru und aus Schweden sind? Denn die nachsichtige Haltung der Polizei scheint derzeit nicht nur für angereiste, sondern auch für einheimische Fußballfans zu gelten. Und für Verhaltensweisen, die schwerwiegender sind, als bloß ein Transparent hochzuhalten.

Das belegt ein bei Facebook gepostetes Video. Es zeigt russische Fußballfans, die in der Moskauer Metro eine der vielen gläsernen Lampenschalen zerbrechen. Die Polizei sieht zu, reagiert aber nicht. In den Kommentaren unter dem Video schwingt Wut mit über das zweierlei Maß, mit dem derzeit in Russland gemessen wird: "Hätten sie Sprechchöre gegen die Rentenreform gerufen, wäre die Geschichte ein wenig anders ausgegangen." - "Naja, Lampen zerschlagen ist eben nicht dasselbe wie 'Nawalny' rufen." - "Ist doch keine Ein-Mann-Demo, warum sollte man sie also festnehmen?"

Wegen einer solchen Ein-Mann-Demo war am Dienstag der Oppositionspolitiker Sergei Mitrochin verhaftet worden. Er hatte vor der Duma gegen die geplante Erhöhung des Renteneintrittsalters protestiert. Die Polizei erklärte, Mitrochin habe damit gegen die extra strengen Demonstrationsverbote, die während der Fußball-WM gelten, verstoßen.

Quelle: ntv.de

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