Elfmeterschießen...... ist reine Glückssache!
Sollte es im EM-Viertelfinale gegen Portugal zum Elfmeterschießen kommen wird Jens Lehmann einen Zettel mit Informationen über die Schützen parat haben.
Jens Lehmann rüstet sich bereits für den Fall der Fälle. Sollte es im Viertelfinale der Fußball-Europameisterschaft gegen Portugal zum Elfmeterschießen kommen will er - wie bei der WM vor zwei Jahren - einen Zettel mit Informationen über die Schützen parat haben, kündigte der deutsche Keeper an. Ob ein Torhüter tatsächlich vorausberechnen kann, in welche Ecke der Schütze den Elfmeter schießen wird, haben Soziologen der Universität Leipzig untersucht.
Hintergrund: Eine Interaktion wie zwischen Schützen und Keeper findet sich nicht nur beim Fußball, sondern in vielen anderen sozialen Interaktionen.
Rückblick ins Jahr 2006:
Als Deutschland das Viertelfinale der letzten Fußball-WM im Elfmeterschießen gewann, glaubten viele, dass dies auch einem Zettel zu verdanken war. Auf diesem waren die Schussrichtungen von möglichen Schützen des argentinischen Gegners notiert. Doch hat der Torwart Jens Lehmann das Strafstoßduell tatsächlich wegen des Zettels gewonnen?
Anders gefragt: Was ist das strategisch optimale Verhalten beim Elfmeter? Dazu muss man sich das Interaktionsproblem von Schütze und Torhüter vergegenwärtigen. Diese stehen vor der Frage: Wohin soll der Ball geschossen werden, beziehungsweise wohin soll der Torwart springen? Was wissen Torwart und Schütze übereinander?
Die Schussgeschwindigkeit des Balles und die Ausmaße des Tores machen es erforderlich, dass der Torhüter sich für eine Ecke entscheidet, bevor er eindeutig sehen kann, wohin der Ball fliegt. Der Schütze wiederum weiß, dass der Torwart erst im letztmöglichen Moment in eine Ecke springen wird, da er sich sonst sämtlicher Abwehrchancen beraubt. Alle Tricks, Körpertäuschungen, Zettel und mehr helfen hier nur solange weiter, als der Gegner diese nicht ebenfalls kennt, was bei professionellen Spielern nicht zu erwarten ist.
Wenn der Schütze Roberto Ayala nämlich weiß, dass er auf Lehmanns Zettel mit der Schussrichtung "rechts" notiert ist, wird er nicht dorthin, sondern nach links schießen. Das weiß aber auch Lehmann und springt ebenfalls nach links, weshalb Ayala doch rechts wählt und so weiter.
Unendlicher Zirkel und "Minimax-Theorem"
Die Auflösung dieses scheinbar unendlichen Zirkels kann aus dem "Minimax-Theorem" abgeleitet werden: Beide Spieler müssen sich derart entscheiden, dass die Chance, das Tor zu erzielen beziehungsweise den Schuss abzuwehren, für jeden Punkt des Tores gleich groß ist.
Dies können sie erreichen, wenn sie sich zufällig für eine Option entscheiden und damit unberechenbar für den Gegner bleiben. Die optimalen Wahrscheinlichkeiten, mit denen diese zufällige Wahl geschehen muss, ergeben sich dabei aus dem erwarteten Gewinn, den der Gegenspieler von einer bestimmten Aktion hat.
Daraus können verschiedene Hypothesen abgeleitet werden. Zum Beispiel sollte der Schütze häufiger die Mitte wählen als der Torwart. Eine Überprüfung dieser und weiterer Vorhersagen an Hand aller 1.043 Elfmeter, die in der Bundesliga von 1992/93 bis 2003/04 getreten wurden, zeigt, dass die Spieler sich im Durchschnitt ungefähr wie vorhergesagt entschieden haben, wie die Leipziger Soziologen erklären.
Warum aber beschäftigen sich Soziologen mit Strafstößen? Die strategische Interaktion, die dabei vorliegt, findet sich nicht nur beim Fußball, sondern in vielen anderen sozialen Interaktionen: Nämlich immer dann, wenn zwei Akteure Erwartungen bilden, die gegenseitig auf den jeweils anderen bezogen sind. In der Soziologie wird dieses Problem als "doppelte Kontingenz" bezeichnet. Verschiedene Theorieprogramme - beispielsweise von Talcott Parsons und Niklas Luhmann - befassen sich damit.
Zahlreiche Alltagsbeispiele für diese Form der Interaktion
Für den speziellen Fall einer "völlig kompetitiven Diskoordinationsinteraktion" wie beim Elfmeter, sind allerdings nur aus der Spieltheorie prüfbare Vorhersagen abzuleiten. Dafür sind auch Daten einfacher zu beschaffen, als für andere gleich geartete soziale Situationen, wie für Entscheidungen im Stau. Auch dort will jeder Autofahrer nicht die Straße wählen, auf der die anderen fahren und für die es eine Staumeldung gibt. Fährt allerdings jeder auf die Ausweichstrecke, verlagert sich der Stau dorthin und die andere Route ist frei, weshalb sich doch alle andersrum entscheiden.
Ein anderes Beispiel aus dem Alltag: Wenn alle Zugreisenden Karten haben, brauchen die Schaffner nicht zu kontrollieren. Dann aber würde es wieder Schwarzfahrer geben, so dass die Schaffner wieder kontrollieren werden.
Übrigens: Von den vier argentinischen Schützen waren nur zwei auf Lehmanns Zettel aufgeführt. Beide schossen auch wirklich in die vorhergesagte Richtung. Einen Schuss davon konnte Lehmann parieren. So kommen die Soziologen schließlich zum nur bedingt originellen Schluss: Elfmeterschießen ist tatsächlich Glückssache!